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Ganz die Deine

Ganz die Deine

Titel: Ganz die Deine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Piñeiro
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Wochenende über den Tod der Deinen bzw. der Ex-Deinen bzw. der Frau, die ich für die Deine gehalten hatte, erschienen waren. Ich konzentrierte den Blick auf seine Schuhe, die fünf Zentimeter von dem Ordner entfernt auf der Tischplatte ruhten. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und sagte: »Alicia ist aufgetaucht.« Ernesto wurde stocksteif. »Gestern haben sie die Leiche gefunden.« Ich beugte mich über den Couchtisch und reichte ihm den himmelblauen Ordner. Ernesto schlug ihn auf und las die Ausschnitte in chronologischer Reihenfolge, so wie ich sie eingeordnet hatte. Der Ordner in seinen Händen zitterte. Er tat mir leid, er schien auf einmal wieder ein kleiner Junge zu sein. Lali kam ins Zimmer und murmelte einen kaum verständlichen Gruß. Sie sah ausgesprochen schlecht aus. Wahrscheinlich hatten sie und ihre Freundin es am Wochenende mal wieder so richtig übertrieben, kaum geschlafen und was Mädchen in ihrem Alter noch so machen. Aber dies war nicht der Moment, ihr eine Standpauke zu halten. Ihr Papa und ich hatten selbst eine ausgesprochen schwierige Situation zu bewältigen. Außerdem hatten wir mittlerweile ohnehin schon viel zu viele Jahre und Mühen in ihre Erziehung investiert. Vom Geld einmal abgesehen. Ernesto hatte es einmal ausgerechnet: Wenn Lali mit der Schule fertig wäre, hätten wir allein für das Schulgeld fast achtzigtausend Dollar ausgegeben. Arbeitsmaterial, Schuluniformen, Bücher, Klassenausflüge, die verwünschte Abschlussreise und diverse Nachhilfelehrerinnen eingeschlossen, kamen wir locker auf einhunderttausend Dollar! Hübsches Sümmchen. Nur damit sie anschließend kommt und sagt, sie will Model werden – wie Ernesto immer klagte. »Oder Hausfrau« – erwiderte ich dann; er selbst wäre nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, sein Töchterchen könnte eines Tages als simple Hausfrau enden. »Lali ist für andere Dinge bestimmt«, sagte er bei solchen Gelegenheiten. Aber sosehr Ernesto sonst in Gedanken ständig mit Lali und ihrer Zukunft beschäftigt war, in diesem Moment dachte er, den himmelblauen Ordner in den Händen haltend, doch einmal über sich selbst nach. Und dazu hatte er allen Grund. Denn an sich selbst denken hieß in diesem Fall, an uns alle zu denken, seine Familie. Dass Lali womöglich eine oder auch zwei Nächte durchgemacht hatte, war für ihr weiteres Leben im Grunde belanglos. Lali sah uns eine Weile an, aggressiv, verbittert, das kannten wir inzwischen ja schon, dann ging sie nach oben. Ernesto brachte kaum ein Wort heraus. Schlimmer noch, bei dem Versuch, zu sagen, »das Parfum für dich habe ich nicht bekommen«, überschlug sich seine Stimme, und es klang wie in einer Telenovela. Auf dem Treppenabsatz drehte sich Lali um und sah ihn an; dann ging sie weiter. Ein Glück. Manchmal ist die schweigende Verachtung, mit der heranwachsende Kinder einen strafen möchten, die beste Lösung. Wenn sie was braucht, wird sie schon wieder sprechen. »Wenn die wüsste, was ihre armen Eltern durchzustehen haben«, sagte ich. Und Ernesto sagte: »Lass sie, sie ist noch ein Kind.« So ist er: Immer verteidigt er sie.
    Ernesto wartete, bis Lali auf der Treppe verschwunden war. Dann las er weiter in dem Ordner. Dabei wurde er immer bleicher, bis von der brasilianischen Bräune kaum etwas übrig war. »Lali darf auf keinen Fall etwas mitbekommen«, sagte er. Ihm standen die Tränen in den Augen. Er war völlig fertig. »So ein Mist!« Er schluchzte auf. Ob wegen Lali oder wegen ihm selbst, vielleicht sogar wegen Alicia, kann ich nicht sagen. Aber die Tränen flossen ihm jetzt in Strömen übers Gesicht.
    Ich stand auf und setzte mich neben ihn. Ernesto warf den Ordner auf den Tisch und starrte ins Leere. Dann seufzte er tief und wischte sich die Tränen fort. Er sah mich an. Er griff nach meiner Hand und presste sie. Er streichelte eine Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen war, tätschelte meinen Oberschenkel und sagte: »Keine Sorge, das wird schon.«
    Da begriff ich endgültig, dass ich einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte.

27
    »Pau … «
    »Lali?«
    »Ja.«
    »Ach, du bists, was machst du?«
    »Ich bin zu Hause. Und, wie wars bei dir?«
    »Super. Und bei dir?«
    »Gut.«
    »Bist du heute nicht in die Schule gegangen?«
    »Nein. Du ja auch nicht.«
    »Ich war total fertig nach dem Wochenende mit meinen Eltern. Das hat mich echt geschafft.«
    » … «
    » … «
    »Weißt du was, seit ungefähr einer Stunde ist mein Bauch knallhart. Am

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