Ganz oder gar nicht (German Edition)
Hausaufgaben war kein Platz, dafür setzten wir uns an den Küchentisch. An die Wände hatten mein Bruder und ich Poster von Borussia Mönchengladbach gepinnt, von Berti Vogts und Günter Netzer. Die Deko hatten wir über meinen Vater bekommen, denn Puma war Ausrüster von Mönchengladbach. Der FC Bayern München interessierte uns nicht; für den war Adidas zuständig.
Puma und Adidas gingen aus ein und derselben Herzogenauracher Schuhmacher-Familie hervor. Die zwei Brüder Adolf und Rudolf Dassler gründeten in den zwanziger Jahren eine gemeinsame Sportschuhproduktion und zerstritten sich – nein, das ist untertrieben, sie waren bis aufs Blut verfeindet. 1948 gingen sie getrennte Wege. Adolf (später sein Sohn Horst) baute das Adidas-Imperium auf, Rudolf (später sein Sohn Armin) begründete das Puma-Imperium. Beide stellten in bitterer Konkurrenz Sportschuhe her, Kontakt hatten die Familien untereinander kaum bis gar nicht. Diese Feindschaft war im Dorf kein Geheimnis, von Betrügereien war die Rede und auch von Denunziationen im Nationalsozialismus.
Da meine Eltern durch Puma ihr Geld verdienten und direkte Nachbarn der Produktionsstätte waren, war ich ziemlich schnell nicht nur der Sohn von Herrn und Frau Matthäus. Ich war auch der Sohn von Puma. Ja, ich war sogar das »Maskottchen«. Ab dem dritten Lebensjahr rannte ich in der Firma herum und kannte die 370 Arbeiter persönlich. Auch zum Chef Rudolf Dassler entwickelte sich schon früh eine enge Verbindung. Dassler wusste, was er wollte, er war streng, zu seinen Mitarbeitern aber gleichzeitig wie ein Vater. Ich durfte jederzeit in sein Büro, um von den weggeworfenen Briefumschlägen, die ihn täglich aus aller Welt erreichten, die Marken abzulösen. Es roch immer nach dem Qualm seiner Tabakpfeife, die er über alles liebte. Ich bin mit Rudolf Dassler am Ufer der Altmühl angeln gewesen und zog mit dem Kescher seine 80-Zentimeter-Hechte aus dem Wasser. Ich war auch bei ihm zu Hause. Er nahm sich Zeit für mich, weil er mich in irgendeiner Form lieb gewonnen hatte. Wir waren wie Großvater und Enkel. Dassler schloss mich so sehr in sein Herz, dass er mir nicht nur hin und wieder einen Trainingsanzug, Schuhe oder einen Ball zusteckte, sondern auch meinen Karrieresprung nach Mönchengladbach mit einem noblen Geschenk bedenken sollte.
PRÜGELKNABE, KLASSENPRIMUS
Meinen Vater habe ich meist nur beim Abendessen gesehen. Er kam oft sehr erschöpft nach Hause, weil er den ganzen Tag unter Druck stand und sich auch selbst viel Druck machte. Ich glaube, er konnte nie richtig abschalten. Das führte dazu, dass er seine Nervosität und Unausgeglichenheit auf die Familie übertrug. Ob wir mal gelacht haben? Bestimmt, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ein entspanntes Leben gab es jedenfalls nicht, dafür war der Alltag zu stressig. Wir sprachen beim Essen auch nicht über die großen Lebensfragen, nicht über die bewegte Familienvergangenheit und – obwohl es eine sehr politische Zeit war – auch nicht über Politik. Es ging um die alltäglichen Probleme, um die Arbeit, die Schule, das Essen, die nächste Schlachtung. Und mir ging es vor allem darum, draußen mit meinen Freunden Fußball zu spielen. Seit ich denken kann, habe ich jede freie Minute genutzt, um gegen den Ball zu treten. Ob allein gegen die Mauer mit selbst ausgedachten Übungen, ob eins gegen eins gegen meinen Bruder oder mit den Nachbarskindern auf dem Bolzplatz.
Die größte Strafe, die meine Eltern verhängen konnten, war Stubenarrest. Die Kochlöffel, die auf meiner Lederhose zerbrachen, der Ast, der immer in der roten Küchenbank bereit lag, oder eine Watschen mit der flachen Hand waren mir lieber, als zwei Tage in meinem Zimmer sitzen zu müssen. Das drohte beispielsweise, wenn ich heimlich mit meinem Bruder geraucht hatte, zu spät nach Hause kam oder nicht, wie versprochen, in die Kirche gegangen war. Aber, doch, wenn man mich fragt: Ich hatte eine glückliche und gute Kindheit – eine freie Kindheit.
Meine Eltern waren fürsorglich, aber streng. Ich hatte keine Angst vor ihnen, nur großen Respekt. Der Ton bei uns zu Hause war derb, aber liebevoll. Da sie beide so viel gearbeitet haben, waren meine Eltern zu beschäftigt, um mich und meine Hausaufgaben zu kontrollieren. Sie überließen uns viel uns selbst, achteten aber sehr darauf, dass die Noten stimmten.
In der Grundschulzeit gab es wenig Grund zur Klage. Ich war einer der besten Schüler meiner Klasse, fleißig und
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