Ganz oder gar nicht (German Edition)
Hahn näherkam. Katharina, meine Mutter, war genauso alt wie mein Vater. Sie hatte keine Vertreibung hinter sich, sie war ein Mädchen aus dem Ort. Ihr Vater, der Betreiber des Wasserwerks, wurde an die russische Front geschickt und kehrte nie wieder aus dem Krieg zurück. Obwohl meine Großmutter immer auf ein Wiedersehen hoffte, wurde der Vermisste irgendwann für tot erklärt, damit es wenigstens Witwenrente geben konnte. Meine Großmutter starb leider schon 1954. Zwei Jahre später heirateten meine Eltern. Es war eine nicht gern gesehene evangelisch-katholische Mischehe, die im konservativen Bayern dazu führte, dass ich einige Jahre später selbstverständlich katholisch getauft wurde.
Im Jahr 1960 trat mein Vater seinen Job bei Puma an, als Hausmeister. Er war zwar gelernter Schreiner, wurde aber schnell zum Mädchen für alles, reparierte, schraubte, wechselte Glühbirnen aus, verkaufte Snacks und Getränke und half, wo Not am Mann war. Für einen Arbeitsbesessenen wie ihn war es geradezu ideal, dass er mit meiner Mutter eine Wohnung in der Würzburger Straße 11 fand, direkt neben dem Firmengelände von Puma. Von Tür zu Tür brauchte er nicht mal eine Minute.
Meine Mutter stellte meinem Vater morgens um fünf nicht nur sein Frühstück hin und schmiss den ganzen Haushalt, sondern saß zusätzlich in stundenlanger Heimarbeit für Puma an der Steppmaschine. Ständig bekam sie Kartons unfertiger Fußballschuhe geliefert, um sie mit den nächsten Arbeitsschritten zu komplettieren. Gut möglich, dass ich irgendwann einmal einen Schuh trug, den meine Mutter zusammengenäht hatte.
ICH WAR DER SOHN VON PUMA
Das Leben meiner Eltern stand derart im Zeichen der Arbeit, dass mein Vater seinen Pflichten bei Puma selbst dann nachging, als ich am 21. März 1961 um 15.20 Uhr geboren wurde. Es war der Hausarzt, der meine Mutter ins Krankenhaus nach Erlangen fuhr.
Ich wuchs mit einem vier Jahre älteren und damit zwei Köpfe größeren Bruder auf. Wolfgang spielte auch Fußball. Zusammen kickten wir mit allem, was uns vor die Füße kam. Wir verstanden uns gut, auch wenn ich immer seine abgetragenen Sachen anziehen und seine alten Fahrräder fahren musste. Wolfgang hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich für ihn nur der kleine Bruder bin. Dennoch wollte ich mich natürlich ständig mit ihm messen. Ich wollte allen beweisen, dass ich mithalten kann. Ich glaube, dass ich durch diese bis zur Erschöpfung geführten Eins-gegen-eins-Spiele im Hinterhof oder im Wohnzimmer sowie die ständigen Ringkämpfe mit Wolfgang angefangen habe zu lernen, mich auch gegen vermeintlich Stärkere durchzusetzen.
Wenn man so will, war dieser Hinterhof die Keimzelle meines Könnens. Wo heute ein weiteres Einfamilienhaus mit gepflastertem Carport steht, lieferte ich mir mit meinem Bruder Zweikämpfe auf einem unebenen Lehmboden, auf dem der Ball ständig versprang. Rechts und links die Gemüsebeete meiner Eltern, unser Tor war die obligatorische Teppichstange. War ich alleine, war die Mauer mein Anspielpartner. Vielleicht habe ich schon hier gelernt, wie es funktioniert, platziert zu spielen, nicht übers Tor zu schießen oder Freistöße ständig in die Wolken zu jagen. Denn schoss ich zu hoch, zersprang die einfach verglaste Fensterscheibe der Oma, die dahinter wohnte. »Halt den Ball flach im Hinterhof!«, schimpfte mein Vater mit mir, der die neue Scheibe nicht nur bezahlen musste, sondern immer auch höchstpersönlich einsetzte.
Das alte Haus steht noch. Wir bewohnten rund siebzig Quadratmeter im ersten Stock, der über eine quietschende und blank gebohnerte Holztreppe zu erreichen war. Vom Flur aus ging es rechts in die große Küche, in der wir uns morgens und abends auch wuschen. Für damalige Zeiten nichts Ungewöhnliches. Toilette und Bad lagen im Erdgeschoss. Vier Mietparteien hatten sich abzustimmen, also musste man vor der Toilette zuweilen auch warten. Das Bad nutzten wir nur samstags, dann war uns für eine Stunde heißes Wasser zugeteilt. Einmal wurde die Wanne vollgemacht, und der Countdown lief. Mein Bruder und ich bekamen je zehn Minuten. In warmem Wasser und Badeschaum zu spielen und zu entspannen, daran war nicht zu denken.
Neben der Küche gab es noch das Wohnzimmer und hinten die zwei Schlafzimmer, eines für meine Eltern, eines für mich und meinen Bruder. Unser Kinderzimmer war kärglich und erinnerte an eine Jugendherberge oder eine Kaserne. Ein Etagenbett aus Holz, zwei Schränke, fertig. Selbst für die
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