Ganz oder gar nicht
Tisch ab.
Rosalind folgte ihm hilflos. „Warum haben Sie nicht vorher angerufen?"
„Setzen Sie sich", forderte er sie ruhig auf, und es machte Rosalind schrecklich wütend, dass sie irgendwie nicht fähig war, sich ihm zu widersetzen.
Sie wollte sagen, dass sie sich zuerst etwas anziehen wolle, aber Najib beachtete sie nicht, sondern beugte sich vor und öffnete mit einem lauten Klicken seine Aktenmappe. Das Geräusch verursachte ihr eine Gänsehaut. Wie gelähmt saß sie neben Najib.
Er holte ein Blatt Papier hervor und hielt es ihr vors Gesicht.
Es war die beglaubigte Fotokopie einer Geburtsurkunde. Name: Samir Jawad. Geschlecht: männlich.
Rosalind blickte auf. „Und?" sagte sie.
„In jenem Sommer wurden Sie schwanger von Jamshid. Im folgenden Frühjahr brachten Sie ein Kind zur Welt."
„So, habe ich das?" konterte sie wütend, obwohl es lächerlich war, zu erwarten, dass er ihr glaubte, eine Fehlgeburt gehabt zu haben.
Najib deutete auf die Stelle, wo es hieß: Mutter: Rosalind Olivia Lewis, und las die Worte laut vor.
Rosalind atmete tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben. „Damit kommen Sie nicht weiter."
„Vater: Jamshid Bahrami", las er weiter.
„Was wollen Sie?" rief sie hitzig. „Was kümmert Sie das alles? Es ist fünf Jahre her. Was liegt Ihnen daran, ob mein Sohn Jamshids Vermögen erbt oder nicht?"
Najib blickte sie von der Seite an. Er antwortete nicht, aber ihr lief ein Schauer der Angst über den Rücken. „In einer so wichtigen Angelegenheit", hatte er gesagt. Sicher, wenn ein Testament und ein bislang unbekannter Erbe auftauchten, mochte das für manche sehr ungelegen kommen, aber Najib tat gerade so, als stecke sehr viel mehr dahinter.
Warum hatte er diese weite Reise gemacht, nur weil sich herausgestellt hatte, dass Jamshid eine Frau gehabt hatte? Diese Frage hätte sie sich schon viel früher stellen müssen. Warum hatten sie sie nicht einfach schriftlich informiert und gefragt, ob es ein Kind aus ihrer Ehe mit Jamshid gebe?
„Hören Sie, Sam ist..." Sie brach ab, als Najib ihr Handgelenk packte.
„Lügen Sie mich nicht an, Rosalind!"
Einen Augenblick lang starrten sie einander stumm an. Plötzlich war der Raum erfüllt von einer fast körperlich spürbaren Spannung, und die hatte nichts mit dem Streit zwischen ihnen zu tun. Schließlich befreite Rosalind ihre Hand aus seinem Griff und stand auf. Mochten ihre Gefühle auch vielschichtig sein, ihre Wut drängte alle anderen Empfindungen in den Hintergrund.
„Sie haben nicht das Recht, mich der Lüge zu bezichtigen! Sie wissen nichts über mich und mein Leben!"
„Ich weiß, dass Sie die Geburt dieses Kind angemeldet haben." Najib hob die Geburtsurkunde vom Boden auf und legte sie in seine Aktenmappe zurück, bevor er aufstand. „Mit diesem Dokument haben Sie offiziell bekundet, dass Jamshid der Vater Ihres Sohnes ist. Jetzt behaupten Sie etwas anderes.
Welche von beiden Behauptungen soll ich glauben?"
Seine Ausstrahlung war unglaublich stark, und Rosalind fühlte sich davon überwältigt. Sie machte ein paar Schritte von ihm weg, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte aus dem Fenster hinaus auf die graue, regennasse Straße. Ein Bentley glitt geräuschlos am Haus vorbei.
„In diesem Land gilt der Ehemann einer Frau immer als der Vater ihrer Kinder, unabhängig davon, ob er der leibliche Vater ist oder nicht. Jamshid ist nicht der Vater meines Kindes."
Najib folgte ihr zum Fenster. „Sie waren schwanger, und Sie haben ein Kind zur Welt gebracht. Sie hatten keine Fehlgeburt. Richtig?"
Sie sah ihn nur böse an.
„Entweder haben Sie Jamshid und meinen Großvater belogen, oder Sie belügen jetzt mich. Anders kann es nicht sein."
Doch, es konnte anders sein, aber sie konnte es ihm nicht erklären. Sie musste mit aller Kraft der Versuchung widerstehen, ihm zu vertrauen und ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Denn von allen Menschen war Najib der letzte, dem sie vertrauen durfte. Was für eine schreckliche Fügung des Schicksals, dass ausgerechnet er diese Rolle in ihrem Leben spielen musste.
„Sie wissen nichts!" rief sie.
„Eine Frau kann nicht eine Fehlgeburt erleiden und wenige Monate später ein Kind bekommen", stellte er nüchtern klar.
„Sagen Sie mir endlich die Wahrheit!"
Um was ging es hier wirklich? Rosalind bekam immer mehr Angst. Hier ging es offenbar um viel mehr, als sie ahnte. Auf je den Fall musste sie Sam aus dieser Sache heraushalten.
„Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt.
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