Garantiert gesundheitsgefährdend: Wie uns die Zucker-Mafia krank macht (German Edition)
Seit jener Zeit ist die Neigung im wissenschaftlichen Establishment gering, die Rolle des Zuckers bei den einschlägigen Krankheiten klar zu benennen.
Und noch diese sanfte Kritik am Zucker stieß beim zeitgenössischen medizinischen Establishment auf Widerspruch. Dr. Frederick Slare, Mitglied des königlichen Ärztekollegs und der Royal Society, ebenfalls in London, veröffentlichte 40 Jahre später eine »Rechtfertigung des Zuckers gegen die Angriffe des Dr. Willis, andere Ärzte und allgemeine Vorurteile«. Er räumte ein: »Da Zucker von äußerster Nährkraft ist, können die Menschen, die ihn verzehren, mehr Leibesfülle ansetzen, als ihnen lieb sein mag.« Doch die »Furcht um den Verlust der schlanken Gestalt« werde »mehr als ausgeglichen durch den Umstand«, dass Zucker die »schlechte Stimmung, so sie einmal auftreten sollte, versüßt und vertreibt«.
Ähnlich euphorisch bejubelten noch Jahrhunderte später die Professoren an den staatlichen Universitäten die Vorzüge des Süßen. Unsterblich machte sich etwa der legendäre Göttinger Professor Volker Pudel (1944–2009) mit seiner öffentlichen Hymne auf die Gummibärchen: »Wenn man sich nur von Gummibärchen ernähren will – no problem.« Pudel war einer der Einflussreichsten seiner Zeit, der berühmteste Ernährungswissenschaftler der Republik, zeitweilig auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), der wichtigsten Fachgesellschaft in diesem Feld. So jubelte auch gleich das Magazin der Süddeutschen Zeitung: »Die Sensation: Zucker macht nicht mehr dick!«
Pudel war auch Mitglied einer Konferenz in Freiburg, die nur dem Zucker und den Süßigkeiten gewidmet war, veranstaltet von der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin. Dabei kam heraus: »Weder Übergewicht, Diabetes mellitus oder andere ›lifestyle-related‹ Krankheiten noch eine Unterversorgung mit essenziellen Nährstoffen könnten heute dem Konsum von Zucker angelastet werden«, so die Tagungsleiter, die Professoren Reinhold Kluthe aus Freiburg und Heinrich Kasper aus Würzburg. Die Tagung in Freiburg wurde veranstaltet »mit freundlicher Unterstützung des Lebensmittelchemischen Instituts des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie«.
Die maßgeblichen Ernährungswissenschaftler arbeiten sehr vertrauensvoll mit der Zuckerindustrie zusammen. Ein späterer Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, der Bonner Professor Peter Stehle, gründete zusammen mit Reinhard Matissek, dem Direktor des Lebensmittelchemischen Instituts des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI), das »Bonner Forum Ernährungswissenschaft«, beide beklagten sich gemeinsam, dass »leider« einzelne Lebensmittel (»z. B. Süßwaren«) als »ungesund« eingestuft würden, und das nur wegen eines charakteristischen enthaltenen Nährstoffs (»z. B. Zucker«). Und wenn sich die wichtigsten Forscher Deutschlands in Sachen Fettleibigkeit (Adipositas) zu ihrer Jahrestagung treffen (Motto: »Wer gewinnt das Rennen gegen Adipositas?«), dann ist natürlich auch der Süßwarenfreund Matissek dabei, mit einem Symposium zum Thema »Genussfähigkeit ist eine Ressource für seelisches Wohlbefinden«. Süß gewinnt immer.
In einer Welt, in der sich die Staaten seit Jahrhunderten so engagiert für den Zucker einsetzen, möchten sich auch die Professoren der staatlichen Universitäten nicht unbedingt gegen den Stoff in Position bringen. So fiel das Urteil überraschend wohlwollend aus, als die wichtigste Institution zur Nahrungssicherheit in Europa ihre Experten zusammenrief, um über die Gesundheitsfolgen des Zuckers zu befinden: die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA (European Food Safety Authority) im italienischen Parma. Die EFSA-Experten beschäftigten sich ausgiebig mit Zucker und anderen Kohlenhydraten. Sie mochte sich dann aber nicht zu direkten Empfehlungen durchringen, einer Beschränkung des Zuckerverzehrs oder gar zu einem Höchstwert für Zucker. Grund: »Dem Gremium liegen nicht genügend Belege vor, um eine Obergrenze für Zucker festzulegen.« Es gebe eigentlich auch gar keine direkten Folgen des Zuckerverzehrs für die menschliche Gesundheit. Übergewicht? Herzkrankheiten? Diabetes? Kein zwingender Zusammenhang, so das Urteil. Nur den Zähnen »kann« Zucker vielleicht schaden – wenn sie schlecht geputzt werden: »Häufiger Verzehr von zuckerhaltigen Nahrungsmitteln kann das Risiko für Zahnkaries erhöhen, vor allem wenn
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