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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Schreiben betraf. Sie mochte eine hübsche Stimme gehabt haben, aber sie
konnte nichts zu Ende bringen; sie beendete ihren zweiten Roman nie – in all
den Jahren nicht, die die Garps mit den Fletchers befreundet waren, und auch
nicht in all den Jahren danach. Sie konnte alles wunderbar sagen, aber – wie
Garp Helen gegenüber bemerkte, als er von Alice schließlich genug hatte – sie
kam nie zum Ende. Sie konnte nicht Schluts machen.
    Auch Harry sollte seine Karten
nicht klug oder gut ausspielen. Die Universität verweigerte ihm eine
Festanstellung – ein bitterer Verlust für Helen, weil sie Harrison als Freund wirklich liebte. Aber die Studentin, der Harry
wegen Helen den Laufpass gegeben hatte, ließ sich nicht so leicht von ihm abbringen;
sie tratschte in der Abteilung für Englische Literatur über ihre Verführung –
obwohl es natürlich nur der Laufpass war, der sie wurmte. Harrys Kollegen zogen
die Augenbrauen hoch. Und Helens Kampf [312]  um eine
Festanstellung für Harrison Fletcher wurde natürlich nicht ernst genommen – ihre Beziehung zu Harry war von der tratschenden Studentin
ebenfalls an die große Glocke gehängt worden.
    Selbst Garps Mutter, Jenny Fields – die sich immer für die Sache der Frauen starkmachte –, teilte Garps Meinung,
dass Helens Festanstellung, die sie so mühelos erhalten hatte, obwohl sie
jünger war als der arme Harry, eher eine Alibi-Geste seitens der Abteilung für
Englische Literatur gewesen war. Wahrscheinlich hatte irgendjemand gesagt, man
brauche unbedingt eine Frau unter den Professoren, und Helen war zufällig
verfügbar gewesen. Helen zweifelte zwar nicht an ihrer Qualifikation, aber sie
wusste, dass sie die Festanstellung nicht wegen ihrer fachlichen Qualitäten
bekommen hatte.
    Aber Helen hatte nicht mit
irgendwelchen Studenten geschlafen – noch nicht. Harrison Fletcher hatte es
unverzeihlicherweise so weit kommen lassen, dass ihm sein Sexualleben wichtiger
wurde als seine Stelle. Immerhin bekam er eine neue Stelle. Und vielleicht ließ
sich das, was von der Freundschaft zwischen den Garps und den Fletchers noch
übrig war, auch nur retten, weil die Fletchers wegziehen mussten. Auf diese
Weise sahen die Paare sich ungefähr zweimal im Jahr; die Entfernung milderte
das, woraus sonst Groll hätte werden können. Alice erfreute Garp mit ihrer
makellosen Prosa – in Briefen. Die Versuchung, einander zu berühren, wenigstens
ihre Einkaufswagen kollidieren zu lassen, war ihnen genommen, und sie
entschlossen sich alle, Freunde von der Art zu werden, wie die meisten »alten
Freunde« es sind: Das heißt, sie waren Freunde, wenn sie [313]  voneinander hörten – oder wenn sie gelegentlich zusammenkamen. Und wenn sie keinen Kontakt hatten,
dachten sie nicht aneinander.
    Garp warf seinen zweiten Roman
weg und begann einen zweiten zweiten Roman. Im
Gegensatz zu Alice war Garp ein richtiger Schriftsteller – nicht weil er besser
schrieb als sie, sondern weil er wusste, was jeder Künstler wissen sollte und
was Garp so ausdrückte: »Man wächst nur, indem man etwas zu Ende bringt und
etwas anderes anfängt.« Selbst wenn diese sogenannten Enden und Anfänge
Illusionen sind. Garp schrieb nicht schneller als andere und auch nicht mehr; nur hatte er beim Arbeiten immer auch die Vorstellung des Abschließens im Kopf.
    Sein zweites Buch, das wusste er,
strotzte von der Energie, die er von Alice zurückbehalten hatte.
    Es war ein Buch voller
verletzender Dialoge und Liebesspiele, die den Partnern weh taten; außerdem
weckte der Sex in den Partnern Schuldgefühle – und gewöhnlich den Wunsch nach mehr Sex. Diese Paradoxie wurde von mehreren Rezensenten
erwähnt, die das Phänomen abwechselnd als »brillant« oder »blöd« bezeichneten.
Ein Kritiker sprach von einem »bitter wahren« Roman, beeilte sich aber
hinzuzufügen, dass die Bitterkeit den Roman zum Status »eines nur minderen
Klassikers« verurteile. Wäre mehr von der Bitterkeit »sublimiert« worden,
theoretisierte der Rezensent, wäre »eine reinere Wahrheit ans Licht gekommen«.
    Über die »These« des Romans wurde
noch mehr Unsinn geschrieben. Ein Kritiker schlug sich mit der Idee herum, der
Roman wolle anscheinend sagen, allein sexuelle [314]  Beziehungen
könnten den Menschen ihr tieferes Wesen offenbaren, während doch gerade in
ihren sexuellen Beziehungen die Menschen alles einzubüßen schienen, was sie an
Tiefe besäßen. Garp sagte, er habe nie eine These gehabt, und einem Rezensenten
erklärte er

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