Garp und wie er die Welt sah
eine
»Allerseelen-Pastorin« war und offenbar mit dem US -Büro
für Ehe- und Familienberater in Verbindung stand (das sie »anerkannt« hatte).
Garp nahm einen Bleistift und malte kleine Nullen neben die Namen der
Eheberater mit religiösem Hintergrund. Sie würden alle recht optimistische
Ratschläge bieten, glaubte Garp.
Über die Ansichten der Berater
mit einer »wissenschaftlicheren« Ausbildung war er sich weniger sicher; auch
über die Ausbildung war er sich weniger sicher. Einer war ein »anerkannter
klinischer Psychologe«, ein anderer ließ seinem Namen schlicht »Magister
Artium, klinisch« folgen; Garp wusste, dass diese Dinge alles Mögliche oder
auch nichts bedeuten konnten. Ein Diplomsoziologe, ein ehemaliger Betriebswirt.
Einer war »Bachelor of Science« – vielleicht in Botanik. Einer war Dr. phil. –
in Ehe? Einer war »Doktor« – aber Doktor der Medizin oder Doktor der
Philosophie? Und wer würde der bessere Eheberater sein? [336] Einer war auf »Gruppentherapie«
spezialisiert; ein anderer, vielleicht nicht so ehrgeiziger, versprach nur
»psychologische Beurteilung«.
Garp wählte zwei Favoriten aus.
Der erste war ein Dr. O. Rothrock – »Selbstbewusstseinsseminar; alle
Kreditkarten«.
Der zweite war M. Neff – »nur
nach vorheriger Anmeldung«. Hinter dem Namen von M. Neff stand lediglich eine
Telefonnummer. Keine Qualifikationen oder grenzenlose Arroganz? Vielleicht
beides. Wenn ich jemanden brauchte, dachte Garp, würde ich es zuerst bei M.
Neff probieren. Dr. O. Rothrock mit seinen Kreditkarten und seinem
Selbstbewusstseinsseminar war eindeutig ein Scharlatan. Aber M. Neff war
seriös; M. Neff hatte eine Vision, da war sich Garp sicher.
Garp wanderte von Ehe ein bisschen weiter im Branchenbuch. Er kam zu Einbauküchen, Endlosdruck und Ertüchtigung. (Nur ein Eintrag, eine auswärtige Nummer – Steering! Garps
Schwiegervater Ernie Holm bot Ertüchtigungskurse an, ein Hobby, mit dem er sein
Gehalt ein bisschen aufbesserte. Garp hatte lange nicht mehr an seinen alten Trainer
gedacht. Er war über Ertüchtigung hinweg zu den Estrichen gelangt, ohne Ernies Namen richtig erkannt zu
haben.) Es folgten Etikettiergeräte und Export – »s. Im- u. Export«. Das reichte. Die Welt war zu
kompliziert. Garp blätterte zurück zu Ehe.
Dann kam Duncan aus der Schule.
Garps ältester Sohn war inzwischen zehn Jahre alt, ein hoch aufgeschossener
Junge mit Helen Garps schmalem, zartem Gesicht und ihren ovalen gelbbraunen
Augen. Helens Haut war von der [337] Farbe hellen Eichenholzes, und Duncan hatte
auch ihre schöne Haut. Von Garp hatte er seine Nervosität, seine
Dickköpfigkeit, seine Anflüge düsteren Selbstmitleids.
»Dad?«, sagte er. »Darf ich heute
Nacht bei Ralph schlafen? Es ist sehr wichtig.«
»Was?«, sagte Garp. »Nein. Wann?«
»Hast du schon wieder das
Telefonbuch gelesen?«, fragte Duncan seinen Vater. Wenn man Garp ansprach,
während er das Telefonbuch las, war es wie der Versuch, ihn aus seinem
Mittagsschlaf zu wecken, das wusste Duncan. Garp las oft das Telefonbuch, auf
der Suche nach Namen für seine Figuren; wenn er mit dem Schreiben ins Stocken
geriet, las er das Telefonbuch nach weiteren Namen durch; er änderte die Namen
seiner Figuren immer wieder. Und wenn er verreist war, schaute er im
Motelzimmer als Erstes nach dem Telefonbuch; gewöhnlich stahl er es.
»Dad?«, sagte Duncan; er nahm an,
sein Vater sei in seiner Telefonbuch-Trance und lebte das Leben seiner
erfundenen Leute. Garp hatte tatsächlich vergessen, dass er diesmal etwas
Reales im Telefonbuch gesucht hatte; er hatte die Düngemittel vergessen und
dachte nur noch an die Kühnheit dieses M. Neff und wie es wohl war, Eheberater
zu sein. »Dad!«, sagte Duncan. »Wenn ich Ralph nicht
vor dem Abendessen anrufe, erlaubt seine Mutter nicht, dass ich noch zu ihm
komme.«
»Ralph?«, sagte Garp. »Ralph ist
nicht hier.« Duncan ließ seinen zarten Unterkiefer hinunterfallen und verdrehte
die Augen; es war eine Geste, die Helen auch oft machte, und Duncan hatte ihren
schönen Hals.
»Ralph ist bei sich zu Hause«, sagte Duncan, »und ich [338] bin bei mir zu Hause, und ich würde heute gern in Ralphs Haus schlafen – bei Ralph.«
»Das geht nicht, weil morgen
Schule ist«, sagte Garp.
»Heute ist doch Freitag«, sagte
Duncan. »Jesus.«
»Du sollst nicht fluchen,
Duncan«, sagte Garp. »Du kannst deine Mutter fragen, wenn sie von der Arbeit
zurückkommt.« Er hielt ihn hin – das wusste er; Garp
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