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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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beargwöhnte Ralph –
schlimmer noch, er hatte Angst, Duncan bei Ralph schlafen zu lassen, obwohl es
nicht das erste Mal war. Ralph war ein etwas älterer Junge, dem Garp nicht
traute; außerdem mochte Garp Ralphs Mutter nicht – sie ging abends aus und ließ
die Jungen allein (Duncan hatte es zugegeben). Helen hatte Ralphs Mutter einmal
als »schlampig« bezeichnet, ein Wort, das Garp schon immer fasziniert hatte
(und ein Aussehen, das ihn bei Frauen reizte). Ralphs Vater lebte in einer
anderen Stadt, so dass das »schlampige« Aussehen von Ralphs Mutter durch ihren
Status als alleinstehende Frau unterstrichen wurde.
    »Ich kann aber nicht warten, bis Mom nach Hause kommt«, sagte Duncan. »Ralphs Mutter
sagt, sie muss es vor dem Abendessen wissen, oder ich darf nicht kommen.« Für
das Abendessen war Garp zuständig, und der Gedanke daran lenkte ihn ab – wie
spät mochte es sein? Duncan kam anscheinend nicht zu einer festen Zeit von der
Schule.
    »Warum fragst du Ralph nicht, ob
er hier schlafen möchte?«, fragte Garp. Ein altes Ablenkungsmanöver. Ralph
schlief oft bei Duncan und ersparte Garp damit die Angst vor der Nachlässigkeit
von Mrs. Ralph (er konnte sich Ralphs Nachnamen nicht
merken).
    »Ralph schläft immer hier«, sagte Duncan. »Ich möchte [339]  einmal bei ihm schlafen.« Um was zu tun?, fragte Garp
sich. Trinken, kiffen, Haustiere quälen, Mrs. Ralph bei ihren losen
Liebesspielen beobachten? Aber Garp wusste, dass Duncan zehn Jahre alt und sehr
vernünftig war – sehr vorsichtig. Die beiden Jungen genossen es wahrscheinlich,
allein in einem Haus zu sein, wo Garp sie nicht belächelte und ständig fragte,
ob sie irgendetwas haben wollten.
    »Ruf doch Mrs. Ralph an, und frag
sie, ob du warten kannst, bis deine Mutter nach Hause kommt, bevor du sagst, ob
du zu ihnen kommst oder nicht«, sagte Garp.
    »Du lieber Himmel,› Mrs. Ralph‹!«, stöhnte Duncan.
»Mom sagt bestimmt: ›Von mir aus gern. Frag deinen
Vater!‹ Das sagt sie immer.«
    Kluges Kind, dachte Garp. Er saß
in der Falle. Er wollte nicht von seiner schrecklichen Angst sprechen, dass
Mrs. Ralph sie womöglich alle drei mitten in der Nacht verbrannte, wenn die
Zigarette, die sie im Bett rauchte, ihre Haare in Brand setzte. Garp hatte
nichts mehr, was er sagen konnte. »Na gut,
meinetwegen«, sagte er grimmig. Er wusste nicht einmal, ob Ralphs Mutter
überhaupt rauchte. Er mochte sie einfach nicht, äußerlich, und er beargwöhnte
Ralph – nur weil der Junge älter war als Duncan und folglich imstande, einen,
wie Garp sich vorstellte, schlechten Einfluss auf Duncan auszuüben.
    Garp beargwöhnte die meisten
Leute, zu denen seine Frau und seine Kinder sich hingezogen fühlten; er hatte
das dringende Bedürfnis, die wenigen Menschen, die er liebte, davor zu
bewahren, so zu werden, wie er sich »alle anderen« vorstellte. Die arme Mrs.
Ralph war nicht das einzige Opfer seiner womöglich rufschädigenden paranoiden [340]  Annahmen.
Ich sollte mehr aus dem Haus gehen, dachte Garp. Wenn ich eine Arbeit hätte,
dachte er – ein Gedanke, den er jeden Tag dachte und jeden Tag überdachte, seit
er nicht mehr schrieb.
    Es gab fast keine Arbeit auf der
Welt, die Garp reizte, und bestimmt keine, für die er qualifiziert war; er war,
das wusste er, für sehr wenig qualifiziert. Er konnte schreiben; wenn er schrieb, glaubte er, dass er sehr gut schrieb.
Aber die Erwägung, sich einen Job zu suchen, erwuchs aus seinem Gefühl, er
müsse mehr über andere Menschen wissen; er wollte seinen Argwohn gegen sie
überwinden. Ein Job würde ihn zumindest zwingen, in Kontakt zu kommen – und
solange er nicht gezwungen war, mit anderen Leuten zusammen zu sein, würde Garp
zu Hause bleiben.
    Anfangs hatte er wegen des
Schreibens nicht ernsthaft darüber nachgedacht, sich einen Job zu suchen. Jetzt
glaubte er wegen des Schreibens, dass er einen Job brauchte. Mir gehen die
Leute aus, die ich mir vorstellen kann, dachte er, aber vielleicht war es in
Wirklichkeit so, dass es nie viele Leute gegeben hatte, die ihm gefielen; und er hatte zu viele Jahre lang nichts mehr
geschrieben, was ihm gefiel.
    »Ich gehe jetzt!«, rief Duncan
ihm zu, und Garp hörte auf zu träumen. Der Junge hatte einen orangeroten
Rucksack auf dem Rücken; darunter war ein zusammengerollter gelber Schlafsack
festgezurrt. Garp hatte beides ausgesucht, wegen der Signalfarben.
    »Ich fahr dich hin«, sagte Garp,
aber Duncan verdrehte wieder die Augen.
    »Mom hat doch den Wagen,

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