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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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der
Nachbarschaft nicht wieder rasen. Sie sahen, dass Garp körperlich gut in Form
war. Die meisten waren Highschool-Schüler und gerieten sofort in Verlegenheit –
wenn sie dabei ertappt wurden, wie sie mit ihrer Freundin in einem frisierten
Auto herumfuhren oder kleine schwarze Gummispuren vor dem Haus ihrer Freundin
hinterließen. Garp war nicht so töricht, sich einzubilden, dass sie ihre
Gewohnheiten ändern würden. Er wollte sie nur dazu bringen, woanders zu rasen.
    Der jetzige Missetäter erwies
sich als Frau (Garp sah ihre Ohrringe funkeln und die Armbänder an ihrem Arm,
als er sich ihr von hinten näherte). Sie stand an einem Halteschild und wollte
gerade wieder losfahren, als Garp mit dem Holzkochlöffel an ihr Seitenfenster
klopfte und sie zu Tode erschreckte. Der Kochlöffel, von dem Tomatensoße
tropfte, sah auf den ersten Blick so aus, als sei er in Blut getaucht worden.
    Garp wartete, bis sie das Fenster
heruntergekurbelt hatte, und formulierte dabei schon seinen Eingangssatz. (»Es
tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ich würde Sie gern um einen
Gefallen bitten…«) Da erkannte er, dass die Frau Ralphs Mutter war – die
berüchtigte Mrs. Ralph. Duncan und Ralph waren nicht bei ihr im Wagen – sie war
allein, und es war offensichtlich, dass sie geweint hatte.
    »Ja, was ist?«, fragte sie. Garp
wusste nicht, ob sie ihn als Duncans Vater erkannte oder nicht.
    »Es tut mir leid, wenn ich Sie
erschreckt habe«, begann Garp. Er verstummte. Was konnte er ihr sonst noch
sagen? Die arme Frau mit dem verheulten Gesicht, die offenbar [356]  eben noch
Streit mit ihrem Exmann oder mit einem Liebhaber gehabt hatte, machte den
Eindruck, als setzten ihre nahenden mittleren Jahre ihr zu wie eine Grippe; sie
wirkte zerknittert vor Kummer, und ihre Augen waren rot und ausdruckslos. »Es
tut mir leid«, murmelte Garp und meinte ihr ganzes Leben. Wie konnte er ihr
sagen, dass er nichts weiter wollte, als dass sie langsamer fuhr?
    »Was ist?«, fragte sie ihn.
    »Ich bin der Vater von Duncan«,
sagte Garp.
    »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie. »Ich bin die Mutter von Ralph.«
    »Ich weiß«, sagte er und
lächelte.
    »Duncans Vater begegnet Ralphs
Mutter«, sagte er sarkastisch. Da brach sie in Tränen aus. Ihr Gesicht fiel
vornüber und traf die Hupe. Sie setzte sich gerade auf und berührte plötzlich
Garps Hand, die auf ihrem heruntergekurbelten Seitenfenster lag; seine Finger
lösten sich, und er ließ den langen Kochlöffel in ihren Schoß fallen. Sie
starrten beide darauf; die Tomatensoße machte einen großen Fleck auf ihrem
zerknitterten beigen Kleid.
    »Sie müssen denken, dass ich eine
verdammt schlechte Mutter bin«, sagte Mrs. Ralph. Garp langte, stets um
Sicherheit bemüht, über ihre Knie und stellte die Zündung ab. Er beschloss, den
Kochlöffel in ihrem Schoß liegen zu lassen. Es war Garps Fluch, dass er seine
Gefühle nicht vor anderen, nicht einmal vor Fremden, verbergen konnte: Wenn er
schlecht von einem dachte, merkte man es irgendwie.
    »Ich habe keine Ahnung, was für
eine Mutter Sie sind«, sagte Garp. »Ich finde, dass Ralph ein netter Junge
ist.«
    [357]  »Er kann rotzfrech sein«,
sagte sie.
    »Vielleicht wäre es Ihnen lieber,
wenn Duncan heute nicht bei Ihnen schläft?«, fragte Garp – hoffte Garp. Er hatte das dumpfe Gefühl, sie wisse vielleicht nicht,
dass Duncan bei Ralph schlafen wollte. Sie schaute auf den Kochlöffel in ihrem
Schoß. »Es ist Tomatensoße«, sagte Garp. Zu seiner Verwunderung nahm Mrs. Ralph
den Kochlöffel und leckte ihn ab.
    »Sind Sie Koch?«, fragte sie.
    »Ja, ich koche gern«, sagte Garp.
    »Schmeckt sehr gut«, sagte Mrs.
Ralph und gab ihm seinen Kochlöffel. »Ich hätte mir einen wie Sie suchen sollen – einen kleinen Muskelprotz, der gern kocht.«
    Garp zählte stumm bis fünf; dann
sagte er: »Ich hole die Jungen sehr gern ab. Sie könnten bei uns schlafen, wenn
Sie lieber allein sein wollen.«
    »Allein!«, rief sie. »Ich bin
fast immer allein. Ich habe die Jungen gern bei mir. Und ihnen gefällt es auch «,
sagte sie. »Möchten Sie wissen, warum?« Mrs. Ralph sah ihn mit einem verruchten
Blick an.
    »Warum?«, fragte Garp.
    »Sie schauen gern zu, wenn ich in
der Badewanne liege«, sagte sie. »Die Tür hat einen Spalt. Ist es nicht süß,
dass Ralph seinen Freunden gern seine alte Mutter vorführt?«
    »Ja«, sagte Garp.
    »Sie haben etwas dagegen, nicht
wahr, Mr. Garp?«, fragte sie ihn. »Sie haben etwas gegen mich.«
    »Es

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