Garp und wie er die Welt sah
guter
Schriftsteller, er sei noch jung und könne nur besser werden. »Er hat«, fügte
sie hinzu, »das Herz am rechten Fleck.«
Wenn Garp das gelesen hätte, wäre
er vielleicht noch sehr viel länger in Wien geblieben. Aber sie trafen
Vorbereitungen zur Abreise. Wie üblich wurden die Vorbereitungen der Garps
durch Ängste beschleunigt. Eines Abends war Duncan bei Einbruch der Dunkelheit
noch nicht aus dem Park zurück, und Garp, der loslief, um ihn zu suchen, rief
Helen noch zu, dies sei das letzte Signal: Sie würden so bald wie möglich
abreisen. Wegen des Stadtlebens überhaupt war Garp zu besorgt um Duncan.
Garp lief die Prinz-Eugen-Straße
hinunter zum russischen Gefallenen-Denkmal am Schwarzenbergplatz. Dort in der
Nähe war eine Konditorei, und Duncan aß gern Kuchen, obwohl Garp den Jungen
wiederholt gewarnt hatte, das würde ihm den Appetit aufs Abendessen verderben. [663] »Duncan!«,
rief er im Laufen, und seine Rufe prallten von den teilnahmslosen Häusermauern
zu ihm zurück wie das froschähnliche Gurgeln des Sogs, der abscheulichen,
warzigen Bestie, deren klebrige Nähe er wie Atem fühlte.
Aber Duncan mampfte vergnügt ein
Stück Grillparzertorte in der Konditorei.
»Es wird immer früher dunkel«,
beklagte er sich. » So sehr habe ich mich auch nicht
verspätet.«
Garp musste es zugeben. Sie
gingen zusammen heim. Der Sog verzog sich in eine schmale, dunkle Gasse – oder
er ist nicht an Duncan interessiert, dachte Garp. Er bildete sich ein, das
Ziehen der Gezeiten an seinen Knöcheln zu fühlen, aber das Gefühl verschwand
wieder.
Das Klingeln des Telefons –
dieser Entsetzensschrei eines Kriegers, der beim Wachgang erdolcht wird –,
schreckte die alte Pension, in der sie wohnten, auf und trieb die zitternde
Wirtin wie ein Gespenst in ihre Zimmer.
»Bitte,
bitte«, flehte sie. Bebend vor Aufregung teilte sie mit, dass es ein
Anruf aus den Vereinigten Staaten sei.
Es war gegen zwei Uhr nachts, die
Heizung war abgestellt, und Garp folgte der alten Frau fröstelnd durch den Flur
der Pension.
»Der Flurläufer war
zerschlissen«, erinnerte sich Garp, »und ausgeblichen.« Das hatte er vor Jahren
geschrieben. Und er hielt Ausschau nach der übrigen Besetzung: dem ungarischen
Sänger, dem Mann, der nur auf seinen Händen gehen konnte, dem unglücklichen
Bären und all den Mitgliedern des traurigen Todeszirkus, den er sich ausgedacht
hatte.
[664] Aber sie waren fort; nur die
hagere, sehr aufrecht gehende alte Frau führte ihn. Ihre aufrechte Haltung
wirkte unnatürlich korrekt, als kompensiere sie einen Haltungsfehler. Es hingen
keine Fotos von Eisschnellläufern an den Wänden, es lehnte kein Einrad neben
der WC -Tür. Nun ging er hinter der Wirtin
eine Treppe hinunter und in ein Zimmer mit greller Deckenbeleuchtung, wie ein
hastig improvisierter Operationssaal in einer belagerten Stadt, und Garp hatte
das Gefühl, dem Engel des Todes zu folgen – der Geburtshelferin des Sogs, dessen
morastigen Gestank er an der Sprechmuschel des Telefons roch.
»Ja?«, flüsterte er.
Und einen Moment lang war er
erleichtert, Roberta Muldoon zu hören – wieder eine sexuelle Abweisung;
vielleicht war das alles. Oder vielleicht der neueste Stand des Wahlkampfs um
das Amt des Gouverneurs von New Hampshire. Garp sah in das alte fragende
Gesicht der Wirtin und bemerkte, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte,
sich ihr Gebiss einzusetzen; ihre Wangen wurden in die Mundhöhle gesogen, das
lockere Fleisch hing am Kinn hinunter – ihr ganzes Gesicht war schlaff wie das
einer Toten. Das Zimmer stank nach der Bestie.
»Ich wollte nicht, dass du es im
Fernsehen siehst«, sagte Roberta jetzt. » Falls es da
drüben im Fernsehen kommt – ich wusste es nicht genau. Oder auch aus der
Zeitung. Ich wollte nicht, dass du es so erfährst.«
»Wer hat gewonnen?«, fragte Garp
leichthin, obwohl er wusste, dass der Anruf wenig mit dem neuen oder alten
Gouverneur von New Hampshire zu tun hatte.
»Sie ist erschossen worden – deine Mutter«, sagte [665] Roberta. »Sie haben sie
getötet, Garp. Ein dreckiger Kerl hat sie mit einem Jagdgewehr erschossen.«
»Wer?«, flüsterte Garp.
»Ein Mann !«,
wimmerte Roberta. Es war das schlimmste Wort, das sie gebrauchen konnte: ein Mann. »Ein Mann, der Frauen hasste«, sagte Roberta. »Er
war Jäger«, schluchzte Roberta. »Die Jagd war freigegeben, oder sie war so gut
wie freigegeben, und kein Mensch kam auf den Gedanken, bei einem Mann mit einem
Jagdgewehr stimme
Weitere Kostenlose Bücher