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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Gang; Garp und Helen konnten sich nur
ansehen und mit den Augen eine Art Hand-in-Hand-Verbindung ausdrücken.
    Vor seinem geistigen Auge sah
Garp seine Mutter, Jenny Fields, ganz in Weiß, von der riesigen Roberta Muldoon
in den Himmel gehoben. Er wusste nicht, was es bedeutete, aber seine Vision von
Jenny Fields über einer Menschenmenge ließ ihn ebenso erschauern wie der
Krankenwagen [654]  auf dem Umschlag von Bensenhaver und wie er
die Welt sah.
    Er begann, mit Duncan zu reden,
über nichts.
    Duncan begann, über Walt und den
Sog zu reden – eine berühmte Familiengeschichte. Denn soweit Duncan sich
zurückerinnern konnte, waren die Garps jeden Sommer nach Dog’s Head Harbor, New
Hampshire, gefahren, wo ein tückischer Sog den kilometerlangen Strand vor Jenny
Fields’ Besitz unsicher machte. Als Walt alt genug war, um sich bis ans Wasser
vorzuwagen, sagte Duncan zu ihm – wie Helen und Garp jahrelang zu Duncan gesagt
hatten: »Pass auf den Sog auf.« Walt trat respektvoll den Rückzug an. Und Walt
wurde drei Sommer lang vor dem Sog gewarnt. Duncan erinnerte sich an all die
Warnungen.
    »Der Sog ist heute schlimm.«
    »Der Sog ist heute stark.«
    »Der Sog ist heute ganz böse.« Böse war ein beliebtes Wort in New Hampshire – nicht nur
für den Sog.
    Und Walt passte jahrelang darauf
auf. Als er zuerst gefragt hatte, was er mit einem
machen könne, hatte man ihm nur erklärt, er könne einen ins Meer hinausziehen.
Er könne einen unter Wasser saugen und ertränken und wegtreiben.
    Es war Walts vierter Sommer in
Dog’s Head Harbor, das wusste Duncan noch, als Garp und Helen und Duncan eines
Tages zusahen, wie Walt das Meer beobachtete. Er stand bis zu den Knöcheln im
Schaum der Brandung und spähte in die Wellen, ohne einen Schritt zu tun, endlos
lange. Die Familie ging schließlich ans Wasser hinunter, um mit ihm zu reden.
    [655]  »Was machst du denn da,
Walt?«, fragte Helen.
    »Was suchst du denn da, du
Blödian?«, fragte Duncan.
    »Ich versuche, den Sog zu sehen«,
sagte Walt.
    »Den was?«, fragte Garp.
    »Den Sog«, sagte Walt. »Ich
versuche, ihn zu sehen. Wie groß ist
er?«
    Und Garp und Helen und Duncan
hielten den Atem an; sie begriffen, dass Walt sich all die Jahre vor einem
riesigen Ungeheuer gefürchtet hatte, das vor der Küste in den Wellen lauerte
und darauf wartete, ihn unter Wasser zu saugen und ins Meer hinauszuziehen. Der
schreckliche Sog.
    Garp versuchte, sich den Sog mit
Walts Augen vorzustellen. Würde er je auftauchen? Schwamm er jemals oben? Oder
war er immer unter Wasser, schleimig und aufgebläht und nach Knöcheln gierend,
die seine klebrige Zunge umfassen konnte? Der gemeine Sog.
    Für Helen und Garp wurde »der
Sog« ein Codewort für Angst. Noch lange, nachdem Walt erklärt worden war, was
es mit dem Monster auf sich hatte (»Der Sog ist doch kein Tier, du Blödian. Es ist die Strömung!«, hatte Duncan geschrien),
beschworen Garp und Helen die Bestie, wenn sie von ihren eigenen Ängsten
sprachen. Wenn der Verkehr dicht war, wenn die Straße vereist war – wenn über
Nacht eine Tiefdruckfront gekommen war –, sagten sie zueinander: »Der Sog ist
heute stark.«
    »Weißt du noch«, fragte Duncan im
Flugzeug, »wie Walt gefragt hat, ob er grün oder braun ist?«
    Garp und Duncan lachten. Aber er
war weder grün noch braun, dachte Garp. Er war ich. Er war Helen. Er hatte die
Farbe von schlechtem Wetter. Er war so groß wie ein Auto.
    [656]  In Wien, fühlte Garp, war
der Sog stark. Helen schien ihn nicht zu fühlen, und Duncan ließ sich wie ein
typischer Elfjähriger von einem Gefühl zum nächsten tragen. Die Rückkehr nach
Wien war für Garp wie eine Rückkehr an die Steering School. Die Straßen, die
Gebäude, sogar die Gemälde in den Museen wiederzusehen war, wie wenn er
plötzlich seinen ehemaligen, nun sehr gealterten Lehrern, gegenübergestanden
hätte; er erkannte sie kaum wieder, und sie kannten ihn überhaupt nicht mehr.
Helen und Duncan schauten sich alles an. Garp war zufrieden, wenn er mit der
kleinen Jenny spazierenging; er schob sie in einem Kinderwagen, der so barock
war wie die Stadt selbst, durch den langen warmen Herbst – er lächelte und
nickte all den zungenschnalzenden älteren Leuten zu, die in den Kinderwagen
spähten und beifällig sein neues Baby betrachteten. Die Wiener schienen
wohlgenährt und von einem Luxus umgeben, der Garp neu vorkam; in Wien waren die
russische Besatzung, die Erinnerung an den Krieg, die mahnenden Ruinen seit
vielen

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