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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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aber sie
schien kaum imstande, ihren Zorn auf die alten, schmutzigen und dummen Sachen
zu zügeln, die der Gouverneur vertrat.
    Der Parkplatz des
Einkaufszentrums war von Lieferwagen eingekreist. Die Lieferwagen waren voller
Männer mit Jagdmänteln und Jägermützen; offenbar vertraten sie lokale
Interessen von New Hampshire – im Gegensatz zu dem Interesse, das die
geschiedenen New Yorkerinnen an New Hampshire hatten.
    Die freundliche Frau, die gegen
den Gouverneur kandidierte, war auch so etwas wie eine geschiedene New
Yorkerin. Dass sie fünfzehn Jahre lang in New Hampshire gelebt hatte und ihre
Kinder dort zur Schule gegangen waren, war eine Tatsache, die der Gouverneur
und seine Anhänger mit ihren Lieferwagen mehr oder weniger ignorierten.
    Es gab viele Transparente; es
wurde ununterbrochen gejohlt.
    [669]  Es war auch eine
Highschool-Footballmannschaft da, im Mannschaftstrikot – ihre Spikes klapperten
auf dem Parkplatz. Einer der Söhne der Kandidatin, der zu der Mannschaft
gehörte, hatte seine Kameraden auf dem Parkplatz versammelt, um New Hampshire
zu demonstrieren, dass es absolut männlich war, für seine Mutter zu stimmen.
    Die Jäger in ihren Lieferwagen
waren der Meinung, jede Stimme für diese Frau sei eine Stimme für die Schwulen,
für die Lesben, für Sozialismus, für Unterhaltszahlungen, für New York. Und so
weiter. Garp hatte bei der Fernsehsendung das Gefühl, dass diese Dinge in New
Hampshire nicht geduldet waren.
    Garp und Helen und Duncan und die
kleine Jenny saßen in der Wiener Pension und würden gleich den Mord an Jenny
Fields sehen. Ihre verwirrte alte Wirtin servierte ihnen Kaffee und Gebäck; nur
Duncan aß etwas.
    Dann sollte Jenny Fields vor den
Leuten, die sich auf dem Parkplatz versammelt hatten, eine Rede halten. Sie
sprach von der Ladefläche eines Lieferwagens aus – Roberta Muldoon hob sie
hinauf und rückte ihr das Mikrophon zurecht. Garps Mutter wirkte auf dem
Lieferwagen sehr klein, besonders neben Roberta, aber Jennys Schwesterntracht
war so weiß, dass sie strahlend und hell ins Auge fiel.
    »Ich bin Jenny Fields«, sagte sie – zu einigen Hochs und einigen Pfiffen und einigen Buhs. Von den Lieferwagen
her, die den Parkplatz eingekreist hatten, ertönte Hupenlärm. Polizisten wiesen
die Fahrer der Lieferwagen an weiterzufahren; sie fuhren weiter und kamen
zurück und fuhren wieder weiter. »Die meisten von Ihnen wissen, wer ich [670]  bin«,
sagte Jenny Fields. Wieder ertönten Buhs, weitere Hochrufe, weiteres Hupen –
und ein einzelner, peitschender Schuss, so endgültig wie eine Welle, die sich
am Strand bricht.
    Niemand sah, woher er kam.
Roberta Muldoon hielt Garps Mutter unter den Armen, Jennys weiße Uniform schien
von einem dunklen Spritzer getroffen zu sein. Dann sprang Roberta mit Jenny in
den Armen von der Ladefläche und bahnte sich einen Weg durch die Menge wie ein
alter Linksaußen, der den Football im Alleingang in die Endzone trägt. Die
Menge teilte sich; Jennys weiße Uniform wurde fast von Robertas Armen verdeckt.
Ein Polizeiauto kam, um Roberta abzufangen; als es nahe genug war, streckte
Roberta Jenny Fields’ Leiche dem Streifenwagen entgegen. Einen Augenblick lang
sah Garp, wie die reglose weiße Uniform seiner Mutter über die Menge hinweg in
die Arme eines Polizisten gehoben wurde, der ihr und Roberta in den Wagen half.
    Der Wagen raste, wie es immer
heißt, davon. Die Kamera wurde von einer Schießerei abgelenkt, die zwischen den
Lieferwagen und mehreren anderen Polizeiautos stattfand. Später lag der
bewegungslose Körper eines Mannes, der einen Jagdmantel trug, in einer dunklen
Lache, die wie Öl aussah. Noch später kam eine Nahaufnahme von einem
Gegenstand, den die Reporter nur als »ein Jagdgewehr« identifizierten.
    Man wies darauf hin, dass die
Rotwildjagd noch nicht offiziell freigegeben war.
    Abgesehen davon, dass es keine
Nacktszenen in der Fernsehsendung gegeben hatte, war das Ereignis von [671]  Anfang
bis Ende eine für Jugendliche ungeeignete Schnulze gewesen.
    Garp dankte der Wirtin dafür,
dass sie ihnen erlaubt hatte, die Sendung zu sehen. Innerhalb von zwei Stunden
waren sie in Frankfurt, wo sie das Flugzeug nach New York nahmen. Der Sog war
nicht mit ihnen im Flugzeug – nicht einmal für Helen, die solche Angst vorm
Fliegen hatte. Eine Weile lang, das wussten sie, war der Sog woanders.
    Alles, was Garp über dem Atlantik
denken konnte, war, dass seine Mutter ein paar angemessene »letzte Worte«
gesprochen hatte.

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