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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Saabs oder aber der Rahmen der
Windschutzscheibe hatte ihr Gesicht getroffen und eine Schläfe und eine Wange
eingedrückt. Das machte ihr Gesicht ein bisschen schief. Ihr braunes
blutverschmiertes Haar wurde vom warmen Sommerwind zerzaust, der durch das Loch
blies, wo die Windschutzscheibe gewesen war.
    Garp wusste, dass sie tot war,
weil er ihr in die Augen sah. Er wusste, dass sie eine Ellen-Jamesianerin war,
weil er ihr in den Mund sah. Er sah auch in ihre Handtasche. Sie enthielt
nichts anderes als den erwarteten Notizblock und einen Bleistift. Und eine
Menge Mitteilungen. Eine von ihnen lautete:
    Hallo!
Mein Name ist…
    und so fort. Eine andere:
    [771]  Sie
haben es nicht anders gewollt.
    Garp stellte sich vor, dass
dies die Mitteilung war, die sie ihm unter den blutigen Gummizug seiner
Joggingshorts hatte stecken wollen, wenn sie ihn tot und zermalmt an der
Straßenseite zurückließ.
    Eine andere Mitteilung war
beinahe lyrisch; es war diejenige, die von den Zeitungen gern wieder und wieder
benutzt werden sollte.
    Ich bin
nie vergewaltigt worden, und ich habe es mir nie gewünscht. Ich bin nie mit
einem Mann zusammen gewesen, und ich habe mir auch das nie gewünscht. Der Sinn
meines ganzen Lebens hat darin bestanden, das Leid von Ellen James zu teilen.
    O Mann, dachte Garp, aber er
ließ diese Mitteilung da, damit sie zusammen mit ihren anderen Sachen gefunden
wurde. Er gehörte nicht zu den Schriftstellern oder zu den Männern, die
wichtige Botschaften unterschlugen – selbst wenn die Botschaften verrückt
waren.
    Seine alte Leistenverletzung
hatte sich durch den Hechtsprung über die Steinmauer und den Draht wieder
verschlimmert, aber er konnte noch laufen und lief zurück in Richtung Stadt,
bis ein Joghurt-Lieferwagen ihn auflas; Garp und der Joghurtfahrer gingen
gemeinsam zur Polizei.
    Als der Joghurtfahrer am
Unfallort vorbeifuhr, kurz bevor er Garp fand, waren die schwarzen Angus-Rinder
durch die Bresche in der Mauer entwischt und umkreisten den schmutzig weißen
Saab wie große tierische [772]  Trauergäste, die diesen fragilen, in einem
fremdländischen Auto ums Leben gekommenen Engel umgaben.
    Vielleicht war das der Sog, den ich gespürt habe, dachte Helen, als sie wach neben dem
fest schlafenden Garp lag. Sie umarmte seinen warmen Körper und schmiegte sich
in den Geruch ihrer eigenen üppigen Sexualität, der ihn umhüllte. Vielleicht
war die tote Ellen-Jamesianerin der Sog, und jetzt ist er fort, dachte Helen;
sie drückte Garp so fest, dass er aufwachte.
    »Was ist?«, fragte er. Doch
wortlos wie Ellen James umarmte Helen seine Hüften; ihre Zähne klapperten an
seiner Brust, und er hielt sie im Arm, bis sie nicht mehr zitterte.
    Eine »Sprecherin« der
Ellen-Jamesianerinnen bemerkte, dies sei ein isolierter Akt der Gewalt gewesen,
der von der Vereinigung der Ellen-Jamesianerinnen nicht gebilligt, aber
eindeutig von der »typisch männlichen, aggressiven Vergewaltigungsdisposition
T.S. Garps« provoziert worden sei. Sie übernähmen keine Verantwortung für
diesen »isolierten Akt«, ließen die Ellen-Jamesianerinnen wissen, aber sie
seien davon auch nicht überrascht oder besonders betroffen.
    Roberta erklärte Garp, dass sie
unter diesen Umständen Verständnis habe, wenn ihm nicht danach sei, vor einer
Gruppe von Frauen zu lesen. Aber Garp las vor den Stipendiatinnen der Fields
Foundation und ihren verschiedenen Gästen in Dog’s Head Harbor – einer
Versammlung von knapp hundert Personen, die im Sonnenzimmer von Jennys großem
Anwesen gemütlich beisammensaßen. Er las ihnen Die Pension
Grillparzer vor und sagte zur Einführung: »Dies ist die erste und beste
Geschichte, die ich je [773]  geschrieben habe, und ich weiß nicht einmal, wie ich
darauf gekommen bin. Ich glaube, sie handelt vom Tod, was ich nicht so genau
wusste, als ich sie schrieb. Heute weiß ich mehr über den Tod, und ich schreibe
kein Wort mehr. In dieser Geschichte gibt es elf wichtige Gestalten, und sieben
von ihnen sterben; eine von ihnen verliert den Verstand; eine von ihnen brennt
mit einer anderen Frau durch. Ich werde nicht verraten, was mit den beiden
anderen Personen passiert, aber Sie sehen, dass die Chancen, die Geschichte zu
überleben, nicht allzu groß sind.«
    Dann las er sie ihnen vor. Einige
von ihnen lachten; vier von ihnen weinten; man hörte viel Schneuzen und Husten,
vielleicht wegen der Feuchtigkeit vom Meer; niemand ging vorzeitig, und alle
klatschten. Eine ältere Frau hinten, neben dem Flügel,

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