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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Garp bejahte. »Also, was hat sie an sich, was du begehrst ?«, fragte ihn Jenny. »Ich meine nicht ihre
Genitalien. Ich meine, gibt es irgendetwas anderes, was einen befriedigt?
Irgendetwas, was man sich vorstellt, etwas, woran man denkt, so etwas wie ein e Aura ?«, fragte Jenny.
    »Warum gibst du mir nicht die zweihundertfünfzig Schilling? Dann brauchst
du ihr keine Fragen mehr zu stellen, Mom«, sagte Garp erschöpft.
    »Werd nicht unverschämt«, sagte
Jenny. »Ich möchte wissen, ob es sie entwürdigt, auf diese Weise begehrt zu werden – und dann auf diese Weise genommen zu werden, nehme ich an –, oder ob sie
denkt, dass es nur die Männer [189]  entwürdigt?« Garp quälte sich ab, um die Frage
zu übersetzen. Die Frau schien ernsthaft darüber nachzudenken – oder aber sie
verstand die Frage nicht. Oder sie verstand Garps Deutsch nicht.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie
schließlich.
    »Ich habe noch andere Fragen«,
sagte Jenny.
    So ging es noch eine Stunde. Dann
sagte die Hure, sie müsse wieder arbeiten. Jenny schien weder befriedigt noch
enttäuscht, was die mangelnden konkreten Ergebnisse des Gesprächs betraf; sie
schien einfach nur unersättlich neugierig zu sein. Garp hatte noch nie jemanden
so begehrt, wie er die Frau begehrte.
    »Begehrst du sie?«, fragte Jenny
ihn so unvermittelt, dass er nicht lügen konnte. »Ich meine, nach all dem – und
nachdem du sie betrachtet hast und mit ihr gesprochen hast, möchtest du jetzt
wirklich noch Sex mit ihr haben?«
    »Natürlich, Mom«, sagte Garp
kläglich. Jenny sah nicht so aus, als verstünde sie die Wollust nun besser als
vor dem Abendessen. Sie sah ihren Sohn verwirrt und überrascht an.
    »Also gut«, sagte sie. Sie gab
ihm die 250 Schilling, die sie der Frau schuldeten, und noch weitere 500
Schilling. »Tu damit, was du tun willst«, sagte sie zu ihm, »oder was du offenbar
tun musst. Aber bitte bring mich zuerst nach Hause.«
    Die Hure hatte beobachtet, wie
das Geld den Besitzer wechselte; sie hatte ein Auge für den richtigen Betrag.
»Hören Sie«, sagte sie zu Garp und berührte seine Hand mit ihren Fingern, die
so kalt waren wie ihre Ringe. »Ich habe nichts dagegen, wenn Ihre Mutter mich
für Sie kaufen will, aber sie kann nicht mit uns kommen. Ich will nicht, dass
sie [190]  uns zuschaut, auf keinen Fall. Ich bin trotz allem katholisch, ob Sie es
glauben oder nicht«, sagte sie. »Und wenn Sie etwas Spezielles wollen, wie das,
müssen Sie sich an Tina wenden.«
    Garp fragte sich, wer Tina war;
er erschauerte bei dem Gedanken, dass anscheinend nichts zu »speziell« für sie
war. »Ich bringe jetzt meine Mutter nach Hause«, sagte Garp zu der schönen
Frau. »Und ich werde nicht zu Ihnen zurückkommen.« Aber sie lächelte ihn an,
und er glaubte, seine Erektion würde seine Tasche voll loser Schillinge und
wertloser Groschen durchstoßen. Nur einer ihrer makellosen Zähne – aber es war
ein oberer Schneidezahn – war ganz aus Gold.
    Im Taxi (Garp hatte sich
einverstanden erklärt, eines zu nehmen) erläuterte Garp seiner Mutter das
Wiener Prostitutionssystem. Jenny war nicht überrascht zu hören, dass die
Prostitution gesetzlich zugelassen war; es überraschte sie dagegen zu hören,
dass sie an so vielen anderen Orten illegal war.
»Warum sollte sie nicht zugelassen sein?«, fragte sie. »Warum soll eine Frau
mit ihrem Körper nicht machen können, was sie will? Wenn jemand dafür zahlen
will, ist es nur ein Tauschgeschäft wie jedes andere. Sind zwanzig Dollar eine
Menge Geld dafür?«
    »Nein, das ist ganz günstig«,
sagte Garp. »Zumindest ist es ein sehr niedriger Preis für die gutaussehenden.«
    Jenny gab ihm eine Ohrfeige. »Du
weißt alles darüber!«, sagte sie. Dann sagte sie, es tue ihr leid – sie hatte
ihn noch nie geschlagen. Sie hätte einfach keine Ahnung, was diese verdammte
Lust, Lust, Lust! sei.
    In der Wohnung in der
Schwindgasse blieb Garp dabei, [191]  nicht mehr ausgehen
zu wollen; er lag sogar schon im Bett und schlief, bevor Jenny durch die
Manuskriptseiten in ihrem wilden Zimmer hindurch zu ihrem Bett stapfte. Ein
Satz brodelte in ihr, aber sie sah ihn noch nicht klar vor sich.
    Garp träumte von anderen
Prostituierten; er hatte in Wien zwei oder drei aufgesucht – aber er hatte nie
die Preise des ersten Bezirks bezahlt. Am nächsten Abend ging Garp nach einem
frühen Essen in der Schwindgasse zu der Frau mit dem silbern schimmernden Muff.
    Ihr Arbeitsname war Charlotte.
Sie war nicht überrascht, ihn

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