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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zu sehen. Charlotte war alt genug, um zu merken,
wenn sie jemanden an der Angel hatte, auch wenn sie Garp nie genau sagte, wie
alt sie war. Sie hatte sehr auf sich geachtet, und nur wenn sie ganz ausgezogen
war, sah man ihr Alter noch an anderen Stellen außer an den Adern auf ihren
schmalen Händen. Sie hatte Schwangerschaftsstreifen am Bauch und an ihren
Brüsten, aber sie erzählte Garp, das Kind sei vor langer Zeit gestorben. Es
störte sie nicht, wenn Garp die Kaiserschnittnarbe berührte.
    Nachdem er Charlotte viermal zum festgesetzten
Tarif des ersten Bezirks besucht hatte, traf er sie eines Samstagmorgens
zufällig auf dem Naschmarkt. Sie kaufte Obst. Ihr Haar war vielleicht ein wenig
schmutzig; jedenfalls hatte sie es mit einem Tuch bedeckt und trug es wie ein
kleines Mädchen – Ponyfransen und zwei kurze Zöpfe. Die Ponyfransen klebten ein
bisschen an ihrer Stirn, die am Tag blasser wirkte. Sie war ungeschminkt und
steckte in Jeans, Tennisschuhen und einem langen weiten Pullover mit hohem
Rollkragen. Garp hätte sie nicht erkannt, wenn er nicht ihre [192]  Hände gesehen
hätte, die das Obst hielten; sie hatte alle ihre Ringe an den Fingern.
    Zuerst wollte sie nicht
antworten, als er sie ansprach. Aber er hatte ihr bereits erzählt, dass er
immer für sich und seine Mutter einkaufte und kochte, und sie fand das amüsant.
Nach einer kurzen Irritation über die Begegnung mit einem Kunden in ihrer
dienstfreien Zeit wirkte sie gut gelaunt. Es dauerte eine Weile, bis Garp klar
wurde, dass er ungefähr so alt war, wie Charlottes Kind gewesen wäre. Charlotte
interessierte sich sozusagen stellvertretend dafür, wie Garp mit seiner Mutter
zusammenlebte.
    »Wie kommt deine Mutter mit dem
Schreiben zurecht?«, fragte sie ihn.
    »Sie hämmert weiterhin drauflos«,
antwortete Garp. »Ich glaube, sie hat das Lustproblem noch immer nicht gelöst.«
    Aber vor Charlotte durfte Garp
sich nur bis zu einem bestimmten Punkt über seine Mutter lustig machen.
    Garp fühlte sich Charlotte
gegenüber so unsicher, dass er ihr von seinen eigenen Schreibversuchen nichts
erzählte. Er wusste, dass sie ihn dafür zu jung finden würde. Zuweilen fand er
das auch. Und seine Geschichte war noch nicht so weit gediehen, dass er sie
jemandem erzählen konnte. Viel mehr als den Titel geändert hatte er nicht. Sie
hieß jetzt Die Pension Grillparzer, und dieser Titel
war das Erste an der Geschichte, was ihm wirklich rundum gefiel. Er half ihm,
sich auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Jetzt hatte er einen Schauplatz im
Kopf – einen einzigenSchauplatz, wo fast alles, was
wichtig war, passieren würde. Das half ihm auch, konzentrierter über seine
Figuren [193]  nachzudenken – über die Familie von Klassifizierern, über die
anderen Gäste einer kleinen, traurigen Pension (sie würde klein und traurig
sein müssen, und in Wien, um den Namen Grillparzer tragen zu können). Zu den
»anderen Gästen« würden auch die Mitglieder eines Zirkus gehören; keines sehr
guten, stellte Garp sich vor, aber eines Zirkus, der sonst nirgendwo unterkam.
Man wollte sie sonst nirgendwo haben.
    In der Welt der Klassifizierungen
würde die ganze Sache so etwas wie eine C-Erfahrung sein. Diese Art, sich die
Dinge vorzustellen, brachte Garp langsam in die, wie er glaubte, richtige
Richtung; damit hatte er recht, nur war es noch zu neu, um es niederzuschreiben – zu neu sogar, um darüber an Helen zu schreiben. Außerdem, je mehr er Helen
schrieb, umso weniger schrieb er auf eine andere, wichtige Weise; und darüber
konnte er nicht mit seiner Mutter sprechen: Phantasie war nicht gerade ihre
Stärke. Und natürlich wäre er sich albern vorgekommen, wenn er über irgendetwas
von alldem mit Charlotte gesprochen hätte.
    Mit Charlotte traf er sich jetzt
öfter samstags auf dem Naschmarkt. Sie kauften ein, und manchmal aßen sie in
einem serbischen Lokal nicht weit vom Stadtpark zusammen zu Mittag. Bei solchen
Gelegenheiten zahlte Charlotte selbst. Bei einem dieser Mittagessen gestand
Garp ihr, dass er den Tarif des ersten Bezirks nur schwer bezahlen könne, ohne
seiner Mutter zu beichten, wohin dieser stetige Geldstrom floss. Charlotte war
verärgert, dass er in ihrer dienstfreien Zeit Geschäftliches zur Sprache
brachte. Sie wäre noch sehr viel ärgerlicher gewesen, hätte er ihr gestanden,
dass er sie geschäftlich weniger sah, da sich die
Preise des sechsten Bezirks, die ihm eine Frau an der Ecke Karl- [194]  Schweighofer-Gasse
und Mariahilfer Straße

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