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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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wach.
    »Ich sah immer weniger
Soldaten«, sagte sie. »Als sie das letzte Mal kamen, waren es nur noch neun.
Sie sahen alle so hungrig aus; sie müssen die überzähligen Pferde gegessen
haben. Es war so kalt. Natürlich wollte ich ihnen helfen!
    Aber wir lebten nicht zur
selben Zeit – wie konnte ich ihnen helfen, da ich doch noch nicht einmal
geboren war? Natürlich wusste ich, dass sie sterben würden! Aber es dauerte so
lange.
    Als sie das letzte Mal
kamen, war der Brunnen zugefroren. Sie benutzten ihre Schwerter und ihre langen
Spieße, um das Eis in Stücke zu brechen. Dann machten sie Feuer und schmolzen
das Eis in einem Topf. Sie holten Knochen aus ihren Satteltaschen – alle
möglichen Knochen – und warfen sie in das Wasser. Es muss eine sehr dünne Brühe
gewesen sein, denn die Knochen waren alle schon vor langer Zeit abgenagt
worden. Ich weiß [219]  nicht, was für Knochen es waren. Kaninchenknochen, nehme
ich an, und vielleicht die Knochen von einem Hirsch oder einem wilden Eber.
Vielleicht auch von den überzähligen Pferden. Ich möchte lieber nicht daran
denken«, sagte Großmutter, »dass es die Knochen der fehlenden Krieger gewesen
sein könnten.«
    »Schlaf jetzt, Großmutter«,
sagte ich.
    »Mach dir wegen des Bären
keine Sorgen«, sagte sie.
    Und dann ?
Was dann?, fragte sich Garp. Was kann als Nächstes passieren? Er war sich nicht
einmal ganz sicher, was passiert war, oder warum.
Garp war ein natürlicher Geschichtenerzähler – er konnte Dinge erfinden, eines
nach dem andern, und sie passten irgendwie zusammen. Aber was bedeuteten sie?
Der Traum und die verzweifelten Akrobaten – was würde ihnen allen noch
widerfahren? Alles musste zusammenpassen. Was wäre eine natürliche Erklärung?
Was für ein Schluss konnte sie alle in ein und derselben Welt vereinen? Garp
wusste, dass er nicht genug wusste – noch nicht. Er verließ sich auf sein
Gefühl; immerhin war er dank dessen soweit mit seiner Erzählung gekommen. Jetzt
sagte ihm sein Gefühl, er solle nicht weiterschreiben, ehe er nicht sehr viel
mehr wisse.
    Was den neunzehnjährigen Garp
älter und klüger machte als seine Altersgenossen, hatte nichts mit Erfahrung
oder mit dem zu tun, was er gelernt hatte. Er hatte ein bisschen Begabung, ein
bisschen Entschlusskraft und eine überdurchschnittliche Geduld; er arbeitete
gern hart. Aber das war, zusammen mit der Grammatik, die Tinch ihm beigebracht
hatte, auch schon alles. Nur zweierlei beeindruckte [220]  Garp: dass seine Mutter
tatsächlich glaubte, sie könne ein Buch schreiben, und dass die wichtigste
Beziehung in seinem gegenwärtigen Leben seine Beziehung zu einer Hure war.
Diese beiden Tatsachen trugen erheblich zu dem Sinn für Humor bei, der sich bei
dem jungen Mann herausbildete.
    Er legte Die
Pension Grillparzer »auf Eis«. Es wird schon kommen, dachte Garp. Er
wusste, dass er mehr wissen musste; alles, was er tun konnte, war Wien erkunden
und erforschen. Es hielt still für ihn. Das Leben schien für ihn stillzuhalten.
Er machte auch sehr viele Erkundungen bei Charlotte, und er nahm alles zur
Kenntnis, was seine Mutter tat. Aber er war einfach zu jung. Was ich brauche,
ist eine Vision, wusste er. Einen Gesamtentwurf, eine
eigene Sicht der Dinge. Es wird schon kommen, sagte er sich, wieder und wieder,
als trainierte er für die nächste Ringersaison – Seilspringen, Runden auf der
kleinen Bahn laufen, Gewichte heben, etwas beinahe so Geistloses, aber ebenso
Notwendiges.
    Selbst Charlotte hat eine Vision,
sagte er sich, und er wusste mit Bestimmtheit, dass seine Mutter eine hatte.
Garp besaß nicht die Einsicht, die der absoluten Klarheit über die Welt
entsprach, so wie Jenny Fields sie sah. Aber er wusste, es war nur eine Frage
der Zeit, bis er sich eine eigene Welt vorstellen konnte – mit ein bisschen
Hilfe seitens der wirklichen Welt. Die wirkliche Welt würde bald mitwirken.

[221]  6
    Die Pension Grillparzer
    Frühling in Wien! Und
Garp hatte Die Pension Grillparzer noch immer nicht
beendet. Selbstverständlich hatte er Helen kein Wort über sein Leben mit
Charlotte und ihren Kolleginnen geschrieben. Jenny hatte, was ihr Schreiben
anging, einen noch schnelleren Gang eingelegt. Sie hatte den einen Satz
gefunden, der seit der Nacht, in der sie mit Garp und Charlotte über die Lust
diskutierte, in ihr gebrodelt hatte: Es war übrigens ein alter Satz aus ihrem
längst vergangenen Leben, und es war der Satz, mit dem sie das Buch, das sie
berühmt machen sollte,

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