Garp und wie er die Welt sah
er
wagte nicht, den sachkundigen Rat seiner Mutter zu suchen. Sie würde ihm nie
glauben, dass er sich den Tripper nicht bei einer Hure geholt hatte. So raffte
er allen Mut zusammen und fragte Charlotte, ob sie ihm einen Facharzt empfehlen
könne, weil er davon ausging, dass sie sich damit auskannte. Nachträglich hätte
er sich lieber an Jenny gewandt; sie wäre wohl weniger ausgerastet.
»Man sollte meinen, die
Amerikaner verstünden ein bisschen was von Hygiene!«, sagte Charlotte wütend.
»Denk bloß mal an deine Mutter! Von dir hätte ich erwartet, dass du einen
besseren Geschmack hast. Leute, die es umsonst mit jemandem machen, den sie
kaum kennen – also wirklich, vor solchen Leuten solltest du dich in Acht
nehmen!« Wieder einmal hatte Garp sich ohne Gummi erwischen lassen. So kämpfte
sich Garp unter Schmerzen bis zu Charlottes Hausarzt durch, einem wackeren Mann
namens Thalhammer, dem der linke Daumen fehlte. »Ich war früher Linkshänder«,
erzählte ihm Herr Dr. Thalhammer. »Aber wir können alles überwinden, wenn wir
wollen. Wir können alles lernen, wenn wir es uns nur fest vornehmen!«, sagte er
zuversichtlich und schrieb Garp vor dessen Augen [225] behende mit seiner rechten
Hand das Rezept. Die Therapie war einfach und schmerzlos. Zu Jennys Zeiten am
guten alten Bostoner Mercy Hospital hätte man Garp noch die
Valentine-Behandlung angedeihen lassen – und er hätte nachdrücklicher gelernt,
dass nicht alle reichen Kinder saubere Kinder sind.
Auch davon schrieb er nichts an
Helen.
Seine Lebensgeister sanken; der
Frühling schritt voran, die Stadt öffnete sich auf mannigfache Art – wie
Knospen. Aber Garp hatte das Gefühl, er habe Wien fertig abgelaufen. Seine
Mutter ließ sich kaum dazu bewegen, ihr Schreiben zu unterbrechen, um mit ihm
zu Abend zu essen. Als er Charlotte besuchen wollte, erfuhr er von ihren
Kolleginnen, sie sei krank und habe seit Wochen nicht mehr gearbeitet. Drei
Samstage hintereinander versuchte er vergeblich, sie auf dem Naschmarkt zu
treffen. Als er ihre Kolleginnen an einem Maiabend in der Kärntner Straße auf
Charlotte ansprach, merkte er, dass sie nicht mit der Sprache herausrücken wollten.
Die Hure mit dem Pfirsichkernabdruck auf der Stirn sagte nur, dass Charlotte
kränker sei, als sie zuerst geglaubt habe. Die Junge mit der verzogenen
Oberlippe und den mangelhaften Englischkenntnissen, versuchte, es ihm zu
erklären. »Ihr Sex ist krank«, sagte sie.
Eine merkwürdige Art, sich
auszudrücken, dachte Garp und lächelte. Nicht dass es ihn überraschte, dass man
sich eine Geschlechtskrankheit holen konnte . Doch die
junge Hure mit den mangelhaften Englischkenntnissen verstand sein Lächeln
falsch und ging wutschnaubend davon.
»Das verstehen Sie nicht«, sagte
die üppige Prostituierte mit der Pockennarbe. »Vergessen Sie Charlotte!«
[226] Es war Mitte Juni, und
Charlotte war immer noch nicht wieder da, als Garp Herrn Dr. Thalhammer anrief
und ihn fragte, wo er sie finden könne. »Ich bezweifle, dass sie irgendjemanden
sehen möchte«, sagte Dr. Thalhammer, »aber der Mensch kann sich mit fast allem
abfinden.«
Nicht weit von Grinzing und
dem Wiener Wald, im neunzehnten Bezirk, wo keine Huren hingehen, sieht Wien wie
ein Dorf aus; hier haben viele Straßen noch Kopfsteinpflaster, und am Rand der
Bürgersteige wachsen Bäume. Da Garp sich in diesem Teil der Stadt nicht
auskannte, fuhr er mit der Linie 38 zu weit die Grinzinger Allee hinauf und
musste das Stück bis zur Ecke Billrothstraße und Rudolfinergasse zu Fuß
zurückgehen, um zum Krankenhaus zu gelangen, das Dr. Thalhammer ihm genannt
hatte.
Das Rudolfinerhaus ist eine
Privatklinik in der Hauptstadt eines Landes, in dem die Medizin generell
verstaatlicht ist. Die kalten Steinmauern sind von dem gleichen
Maria-Theresia-Gelb wie Schloss Schönbrunn oder das Obere und Untere Belvedere.
Es hat einen eigenen Park auf seinem eigenen Gelände und ist so teuer wie die
meisten Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten. Das Rudolfinerhaus stellt den
Patienten in der Regel keine Schlafanzüge zur Verfügung, da diese gewöhnlich
ihr eigenes Nachtzeug mitbringen. Die reichen Wiener, die es sich leisten
können, und die meisten Ausländer, die sich vom staatlichen Gesundheitssystem
abschrecken lassen, landen hier draußen, wo sie als Erstes die saftigen Preise
verdauen müssen.
Im Juni, bei seinem ersten
Besuch, hatte Garp den Eindruck, das Rudolfinerhaus sei voller hübscher junger [227]
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