Garp und wie er die Welt sah
Mütter,
die gerade entbunden hatten. Aber es war auch voller wohlhabender Leute, die
hier wieder auf den Damm kommen wollten, und dann gab es noch einige
wohlhabende Leute, die wie Charlotte hergekommen waren, um zu sterben.
Charlotte lag in einem
Einzelzimmer, da sie nun, wie sie sagte, keinen Grund mehr hatte zu sparen. Als
Garp sie sah, wusste er, dass sie sterben würde. Sie hatte fast dreißig Pfund
abgenommen. Garp sah, dass sie ihre verbliebenen Ringe am Zeige- und am
Mittelfinger trug, weil die anderen Finger so dürr geworden waren, dass ihr die
Ringe herunterglitten. Charlottes Haut war gräulich wie im Winter die
Eisschollen auf dem brackigen Steering River. Garps Besuch schien sie nicht
groß zu überraschen, doch stand sie unter so starken Schmerzmitteln, dass Garp
den Eindruck hatte, dass kaum etwas sie noch überraschen konnte. Garp hatte ein
Körbchen Obst mitgebracht, weil er Charlottes Vorlieben von ihren gemeinsamen
Naschmarktbesuchen her kannte, aber die Kranke wurde täglich mehrere Stunden
intubiert, was ihren Rachen so wund machte, dass sie nur noch Flüssigkeiten
schlucken konnte. Garp aß ein paar Kirschen, während Charlotte die Teile ihres
Körpers aufzählte, die ihrer Meinung nach entfernt worden waren; ihre
Geschlechtsorgane, ein Großteil ihres Verdauungstrakts und etwas am
Darmausgang. »Und dann noch meine Brüste, glaube ich«, sagte sie, und das Weiß
in ihren Augen war sehr grau, und ihre Hände waren über der Brust gefaltet, wo
einst – tröstliche Erinnerung – ihre Brüste gewesen waren. Garp hatte nicht den
Eindruck, dass man ihre Brüste angetastet hatte – da war immer noch etwas unter
der [228] Decke. Doch Charlotte war, wie er sich später sagte, eine so schöne Frau
gewesen, dass sie allein durch ihre Körperhaltung die Illusion von ansehnlichen Brüsten hatte wecken können.
»Gott sei Dank hab ich Geld«, sagte
Charlotte. »Das ist doch ein A-Klasse-Haus, oder?«
Garp nickte. Am nächsten Tag
brachte er eine Flasche Wein mit; das Krankenhaus war sehr nachsichtig, was
Besucher und Alkohol betraf – vielleicht gehörte das mit zum Luxus, für den man
zahlte. »Selbst wenn ich wieder rauskäme«, sagte Charlotte, »was sollte ich
tun? Sie haben mir auch mein Portemonnaie rausgeschnitten.« Sie nippte ein
wenig an ihrem Wein, dann schlief sie ein. Garp bat eine Lernschwester, ihm zu
erklären, was Charlotte mit ihrem »Portemonnaie« gemeint habe – obwohl er es
ahnte. Die Lernschwester, die in Garps Alter war, neunzehn oder etwas jünger,
errötete und sah an ihm vorbei, als sie ihm den Slangausdruck übersetzte.
»Portemonnaie« sei ein
Prostituiertenausdruck für Vagina.
»Danke«, sagte Garp.
Ein paarmal traf er bei Charlotte
auch deren zwei Kolleginnen an, die bei Tag in Charlottes sonnigem Zimmer eher
schüchtern und kleinmädchenhaft wirkten. Die Junge, die etwas Englisch sprach,
hieß Wanga, und sie hatte sich die Lippe als Kind aufgeschnitten, als sie mit
einem Glas Mayonnaise vom Laden nach Hause lief und hinfiel. »We were on a picnic going«, erklärte sie, »und stattdessen
musste meine Familie mich ins Krankenhaus bringen.«
Die reifere Frau mit dem
Schmollmund und der [229] Pfirsichkernpockennarbe auf der Stirn und den gewaltigen
Brüsten bot ihm keine Erklärung für ihre Narbe an; sie war die berüchtigte
»Tina«, der nichts zu »speziell« war.
Gelegentlich lief Garp im
Krankenhaus auch Herrn Dr. Thalhammer über den Weg, und einmal begleitete er
Thalhammer bis zu dessen Auto. »Soll ich Sie mitnehmen?«, bot Dr. Thalhammer
ihm freundlich an. Im Auto saß eine hübsche junge Schülerin, die Thalhammer als
seine Tochter vorstellte. Sie unterhielten sich zu dritt angeregt überAmerika , und Dr. Thalhammer
versicherte Garp, es mache ihm keinerlei Umstände, Garp bis vor seine Haustür
in der Schwindgasse zu fahren. Dr. Thalhammers Tochter erinnerte Garp an Helen,
aber er traute sich nicht zu fragen, ob er das Mädchen wiedersehen dürfe. Dass ihr
Vater ihn kürzlich wegen eines Trippers behandelt hatte, schien Garp ein
unüberwindliches Hindernis – auch wenn Dr. Thalhammer zuversichtlich behauptet
hatte, der Mensch könne sich mit allem abfinden.
Damit, dachte Garp, hätte Dr. Thalhammer sich wohl kaum abfinden können.
Auf Garp wirkte die Stadt jetzt
ringsherum reif zum Sterben. Die von Menschen wimmelnden Parks und Gärten
strömten für ihn den Geruch der Verwesung aus, und auch die großen Maler in den
großen Museen hatten
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