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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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immer nur den Tod gemalt. Mit der Linie 38 fuhren immer
Krüppel und alte Leute zur Grinzinger Allee hinaus, und die duftenden Blumen an
den gepflegten Wegen im Klinikpark erinnerten Garp an Bestattungsunternehmen.
Er dachte an die Pensionen, in denen er und Jenny nach ihrer Ankunft vor über
einem Jahr als Erstes gewohnt hatten: an die verblichenen, nicht zueinander
passenden Tapeten, den [230]  staubigen Nippes, das abgestoßene Porzellan, die nach
Öl schreienden Türangeln. »Im Leben eines Menschen«, schrieb Mark Aurel, »ist
seine Zeit nur ein Augenblick… sein Körper eine Beute der Würmer…«
    Die junge Lernschwester, die er
in Verlegenheit gebracht hatte, indem er sie nach Charlottes »Portemonnaie«
fragte, behandelte ihn immer schnippischer. Eines Tages, als er vor der
regulären Besuchszeit kam, fragte sie ihn brüsk, ob er denn mit Charlotte
verwandt sei? Aufgrund von Charlottes anderen Besuchern, wie zum Beispiel ihren
grellgeschminkten Kolleginnen, schloss sie bei ihm auf einen Freier der alten
Nutte. »Sie ist meine Mutter«, sagte Garp und genoss irgendwie den Schock der
jungen Lernschwester und den Respekt, den sie ihm von nun an bezeugte.
    »Was hast du ihnen erzählt?«,
fragte ihn Charlotte ein paar Tage später flüsternd. »Sie halten dich für
meinen Sohn.« Er gestand seine Lüge, und Charlotte beichtete, dass sie sie
ihrerseits nicht richtiggestellt habe. »Vielen Dank«, flüsterte sie. »Es macht
Spaß, die arroganten Schweine reinzulegen.« Und mit einem Anflug ihrer
früheren, nun schwindenden Sinnlichkeit sagte sie: »Ich würde es dich glatt
einmal umsonst machen lassen, wenn ich mein Werkzeug noch hätte. Oder sonst
zweimal zum halben Preis.«
    Er war gerührt und brach in
Tränen aus.
    »Sei kein Kind«, sagte sie. »Was
bin ich denn schon für dich?« Während sie schlief, las er auf ihrem
Krankenblatt, dass sie einundfünfzig war.
    Sie starb eine Woche später. Als
Garp ihr Zimmer betrat, war der Boden blankgewienert, das Bett abgezogen, das
Fenster weit geöffnet. Als er nach Charlotte fragte, geriet er [231]  an eine
Stationsschwester, die er nicht kannte – eine eisgraue alte Jungfer, die immer
nur den Kopf schüttelte. »Fräulein Charlotte«, sagte Garp. »Sie war Patientin
von Herrn Dr. Thalhammer.«
    »Dr. Thalhammer hat eine Menge
Patienten«, sagte die eisgraue Jungfer. Sie konsultierte eine Liste, aber Garp
wusste Charlottes richtigen Namen nicht. Schließlich wusste er nur noch eine
Möglichkeit, sie genauer zu bezeichnen.
    »Die Hure«, sagte er. »Sie war
eine Hure.«
    Die graue Frau musterte ihn kühl – nicht unbedingt mit Befriedigung im Ausdruck, aber ohne jedes Mitgefühl.
    »Die Prostituierte ist tot«,
sagte die alte Krankenschwester, und Garp meinte, einen leisen Triumph aus
ihrer Stimme herauszuhören.
    »Eines schönen Tages, gute Frau «, sagte er zu ihr, »werden auch Sie tot sein.«
    Und das, dachte er im
Hinausgehen, war eine ungemein wienerische Bemerkung. Lass es dir gesagt sein,
du alte graue Stadt, du totes Ungeheuer, dachte er.
    An dem Abend ging er zum ersten
Mal in die Oper; zu seiner Überraschung wurde sie auf Italienisch gesungen, und
da er kein Wort verstand, fasste er die ganze Vorstellung als eine Art
religiöser Zeremonie auf. Anschließend spazierte er durch die Nacht und zu den
beleuchteten Türmen des Stephansdoms; der Südturm, las er auf einer Tafel, war
um die Mitte des 14. Jahrhunderts begonnen und 1439 fertiggestellt worden.
Wien, dachte Garp, ist ein Kadaver – und ganz Europa vielleicht nichts als ein
herausgeputzter Leichnam in einem offenen Sarg. »Im Leben eines [232]  Menschen«,
schrieb Mark Aurel, »ist seine Zeit nur ein Augenblick… sein Schicksal dunkel…«
    Mit diesen Gedanken machte sich
Garp auf den Heimweg über die Kärntner Straße, wo er der berüchtigten Tina über
den Weg lief. Ihre tiefe Pockennarbe schimmerte grünlich blau im Neonlicht der
Straßenlaternen.
    »Guten Abend, Herr Garp«, sagte
sie. »Raten Sie mal!«
    Tina erklärte, dass Charlotte ihm
eine Gunst gekauft hatte. Die Gunst bestand darin, dass Garp Tina und Wanga
umsonst haben konnte; er konnte sie jede für sich oder beide zusammen haben,
erklärte Tina. Zusammen, fand Tina, war interessanter – und schneller. Aber
vielleicht mochte Garp sie ja nicht beide. Garp gab zu, dass Wanga ihn nicht
reizte, weil sie fast gleich alt war wie er und ihn ihre vom Mayonnaiseglas
verunstaltete Lippe doch störte – auch wenn er das aus Taktgefühl

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