Garp und wie er die Welt sah
in ihrer
Gegenwart nie gesagt hätte.
»Dann können Sie mich zweimal
haben«, sagte Tina fröhlich. »Einmal jetzt und einmal«, fügte sie hinzu, »wenn
Sie wieder etwas zu Atem gekommen sind. Vergessen Sie Charlotte«, sagte Tina.
Der Tod holt uns alle irgendwann, erklärte Tina. Trotzdem lehnte Garp das
Angebot höflich ab.
»Wie Sie wollen, Sie können
jederzeit darauf zurückkommen«, sagte Tina. Sie griff in seinen Hosenladen und
nahm ungeniert sein Glied in ihre warme Hand, die groß wie ein geräumiger
mittelalterlicher Hosenbeutel war, aber Garp empfahl sich – typisch wienerisch – mit einer lächelnden Verbeugung und ging heim zu seiner Mutter.
Er verzichtete ungern, genoss
dabei aber den kleinen [233] Schmerz – denn was er sich mit Tina vorstellte, war viel lustvoller als alles, was er ihrem dicklichen
Körper in Wirklichkeit hätte abgewinnen können. Die schimmernde Vertiefung auf
ihrer Stirn war fast so groß wie ihr Mund und wirkte auf Garp wie ein kleines
offenes Grab.
Was Garp sich da ausmalte, war
ein Vorgeschmack auf die lang erstrebte schriftstellerische Trance, in der eine
einzige Tonlage die ganze Welt umhüllt. »Alles Körperliche ist wie eilendes
Wasser«, fiel ihm wieder ein, »alles Seelische wie Träume und Dämpfe.« Es wurde
Juli, bis Garp die Arbeit an der Pension Grillparzer wiederaufnahm. Seine Mutter dagegen war in der Schlussphase des Manuskripts,
das schon bald ihrer beider Leben verändern sollte.
Es war August, als Jenny ihr Buch
beendete und verkündete, sie sei nun reisefertig und
wolle endlich noch etwas von Europa sehen. »Wie wär’s mit Griechenland?«,
schlug sie vor. »Lass uns einfach mit dem Zug irgendwohin fahren«, sagte sie.
»Ich wollte schon immer mit dem Orient-Express fahren. Wohin fährt der
eigentlich?«
»Von Paris nach Istanbul, soviel
ich weiß«, sagte Garp. »Aber du wirst allein fahren
müssen, Mom. Ich habe noch zu viel zu tun.«
Wie ich dir, so du mir, musste
Jenny einräumen. Sie hatte Eine sexuell Verdächtige so satt, dass sie das Manuskript nicht einmal mehr auf Tippfehler durchsehen
konnte. Und sie wusste auch nicht, was sie jetzt damit machen sollte; fuhr man
einfach nach New York und händigte einem Wildfremden die eigene
Lebensgeschichte aus? Sie wollte, dass Garp das Manuskript las, aber sie sah,
dass Garp endlich in eine eigene Aufgabe vertieft war, und fand, dass sie [234] ihn
nicht behelligen sollte. Außerdem war sie sich ihrer Sache nicht ganz sicher:
Ein großer Teil ihrer Lebensgeschichte war ja auch seine Lebensgeschichte, und wer weiß, ob die Geschichte ihn
nicht aus der Fassung bringen würde.
Garp arbeitete den ganzen August
über am zweiten Teil seiner Kurzgeschichte. Nach einer Weile hielt Helen es
nicht mehr aus und erkundigte sich brieflich bei Jenny. »Ist Garp tot?«, fragte
sie an. »Ich bitte höflichst um Mitteilung der näheren Umstände.« Diese Helen
Holm ist ein gescheites Mädchen, dachte Jenny. Helen erhielt eine längere
Antwort, als sie erwartet hatte. Jenny schickte ihr eine Kopie des Manuskripts Eine sexuell Verdächtige und ließ sie in einer beigefügten
Mitteilung wissen, das sei das, was sie im
vergangenen Jahr getrieben habe, und nun schreibe auch Garp etwas. Jenny
schrieb Helen, sie würde sich freuen, wenn sie sich offen zu ihrem Manuskript
äußern könnte. Und vielleicht wüsste ja der eine oder andere von Helens
College-Professoren, was man mit einem fertigen Buch mache?
Wenn er nicht schrieb, ging Garp
zur Erholung in den Tiergarten. Dieser lag inmitten der kaiserlichen Hofgärten
von Schloss Schönbrunn. Viele der Zoogebäude waren beschädigt, zu drei Vierteln
im Krieg durch Bomben zerstört und erst teilweise wiederaufgebaut worden, um
die Tiere zu beherbergen. Auf Garp wirkte der Tiergarten unheimlich, als wäre
man noch mitten im Krieg, er weckte aber auch sein Interesse für Wien während
der Hitlerzeit. Seine Einschlaflektüre waren nun abends einige sehr spezielle
historische Berichte über Wien im Nationalsozialismus und während der
russischen Besatzung. All das hing für ihn [235] irgendwie mit den Todesmotiven
zusammen, die ihn bei der Niederschrift von Die Pension
Grillparzer verfolgten. Garp entdeckte, dass beim Schreiben alles mit
allem anderen zusammenzuhängen scheint. Wien war eine sterbende Stadt, im
Tiergarten hatte man die Kriegsschäden nicht so gut beseitigt wie an den
Häusern, in denen die Menschen lebten; die Geschichte
einer Stadt war wie die Geschichte
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