Garp und wie er die Welt sah
einer Familie – es gibt Nähe und sogar
Zuneigung, aber zuletzt scheidet sie alle der Tod. Nur die Lebendigkeit der
Erinnerung erhält die Toten am Leben, und ein Schriftsteller hat die Aufgabe,
sich alles so persönlich vorzustellen, dass das, was er schreibt, so lebendig
ist wie unsere eigenen Erinnerungen. Garp betastete die Einschussstellen vom
Maschinengewehrfeuer unten an der Treppe zu ihrer Wohnung in der Schwindgasse.
Jetzt wusste er, was der Traum
der Großmutter bedeutete.
Er schrieb Helen, als junger
Schriftsteller habe man das verzweifelte Bedürfnis, mit jemandem
zusammenzuleben, und er sei zu dem Schluss gekommen, er wolle mit ihr
zusammenleben – sie sogar heiraten, bot er an, weil
Sex einfach notwendig sei, aber es sei zu zeitraubend, wenn man fortwährend
planen müsse, wie man dazu komme. Deshalb, argumentierte Garp, lebte man besser damit!
Helen schrieb und verwarf mehrere
Briefe, ehe sie schließlich einen an ihn abschickte, in dem es hieß, er könne
sich seinen Vorschlag »an den Hut stecken«. Ob er sich allen Ernstes einbilde,
sie studiere so eifrig am College, um ihm zu Sex zu verhelfen, den man nicht
einmal zu planen brauche?
[236] Garp dagegen verlor keine Zeit
mit Entwürfen, sondern antwortete ihr postwendend, er sei zu sehr mit Schreiben
beschäftigt, um sich die Zeit nehmen zu können, es ihr zu erklären. Sie müsse
lesen, woran er arbeite, und dann selbst urteilen, wie ernst es ihm sei.
»Ich zweifle nicht daran, dass es
Dir ernst ist«, schrieb Helen zurück. »Und im Augenblick krieg ich mehr zu lesen,
als ich wissen will.«
Sie unterließ, ihm zu sagen, dass
sie sich auf Jennys Buch Eine sexuell Verdächtige bezog; es umfasste 1158 Manuskriptseiten. Kein literarischer Wurf – darin
stimmte sie später mit Garp überein –, aber, wie sie zugeben musste, eine
äußerst spannende Geschichte.
Während Garp letzte Hand an seine
sehr viel kürzere Geschichte legte, plante Jenny Fields ihren nächsten
Schachzug. In ihrer Rastlosigkeit hatte sie an einem großen Wiener
Zeitungskiosk ein amerikanisches Nachrichtenmagazin gekauft; darin las sie von
einem mutigen New Yorker Verleger, der gerade das Manuskript eines wegen
Unterschlagung von staatlichen Geldern verurteilten ehemaligen
Regierungspolitikers abgelehnt hatte. Das Buch, eine kaum verhüllte »fiktive«
Darstellung der erbärmlichen Tricksereien des Verbrechers, sei »ein miserabler
Roman«, hatte der Verleger erklärt. »Der Mann kann nicht schreiben. Warum
sollte er mit seinem schmutzigen Leben Geld verdienen?« Das Buch sollte später
woanders veröffentlicht werden und seinem verachtenswerten Autor und dessen
Verlag eine Menge Geld einbringen. »Manchmal habe ich das Gefühl, es ist meine
Pflicht, nein zu sagen«, wurde der Verleger zitiert, »selbst wenn die Leute
diesen Mist lesen [237] wollen.« Der Mist sollte schließlich mehrere seriöse
Kritiken bekommen, als handelte es sich um ein seriöses Buch, aber Jenny war
von dem Verleger, der nein gesagt hatte, so beeindruckt, dass sie den Artikel
aus dem Nachrichtenmagazin ausschnitt und den Namen des Verlegers einkringelte.
Ein ganz gewöhnlicher Name, fast wie der Name eines Schauspielers oder der Name
eines Tiers in einem Kinderbuch: John Wolf. In dem Magazin war ein Bild von
John Wolf. Er sah aus wie ein Mann, der auf sich achtete. Er war sehr gut
gekleidet und sah aus wie viele Leute in New York, wo Geschäftssinn und
gesunder Menschenverstand es ratsam erscheinen lassen, auf sich zu achten und
sich möglichst gut zu kleiden; aber für Jenny Fields sah er aus wie ein Engel.
Das war ihr Verleger, da war sie sicher. Sie war
überzeugt, dass ihr Leben nicht »schmutzig« war und dass John Wolf finden würde, sie sei es wert, Geld damit zu
verdienen.
Garp verfolgte mit seiner Pension Grillparzer andere Ambitionen. Die Erzählung sollte
ihm nie viel Geld einbringen: Sie sollte zuerst in einer »seriösen« Zeitschrift
erscheinen, wo fast niemand sie lesen würde. Jahre später, wenn Garp bekannter
wäre, sollte sie in Buchform veröffentlicht werden und auch ein paar
anerkennende Kritiken bekommen, aber zu seinen Lebzeiten sollte Die Pension Grillparzer ihm nicht einmal so viel Geld
einbringen, dass er sich davon ein ordentliches Auto kaufen konnte. Garp
erhoffte sich von seiner ersten Kurzgeschichte jedoch mehr als Geld oder ein
Transportmittel, nämlich schlicht und einfach, dass er Helen Holm damit bewegen
könnte, mit ihm zusammenzuleben – ihn sogar zu
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