Garp und wie er die Welt sah
Garp. Er rannte über den Parkplatz auf den Jungen zu, der
seinerseits auf das Labyrinth von Wegen zulief, das den Park durchzog. Während
er lief, fielen nach und nach verschiedene Gegenstände aus seiner Jacke heraus:
eine Schere, ein Rasierer, eine Tube Rasiercreme, und dann folgten
Kleidungsstücke – die des Mädchens natürlich. Ihre Jeans mit einem aufgenähten
Marienkäfer an der Hüfte, ein Pulli mit einem strahlenden Froschgesicht auf der
Brust. Ein Büstenhalter war natürlich nicht dabei – wozu auch. Garp erwischte
ihre Unterhose, die himmelblau und aus schlichter Baumwolle war, mit einer blauen
Blume am Bund, an der ein blaues Häschen schnupperte.
Der berittene Polizist überritt
einfach den davonlaufenden Jungen. Die Brust des Pferdes stieß den Jungen mit
dem Gesicht nach unten auf den Aschenweg, und einer der Hinterhufe riss einen
U-förmigen Fleischklumpen aus der Wade des Jungen, der sich vor Schmerz
zusammenkrümmte und sich das Bein hielt. Garp ging mit der blauen
Häschenunterhose des Mädchens in der Hand zu ihnen und übergab sie dem
berittenen Polizisten. Andere Leute – die Frau mit dem mit Decken beladenen
Kinderwagen, zwei Jungen auf Fahrrädern, ein dünner Mann mit einer Zeitung –
traten nun ebenfalls hinzu. Sie brachten dem Polizisten die anderen Sachen, die
der Junge hatte fallen lassen. Den Rasierer, die restlichen Kleidungsstücke des
Mädchens. [285] Niemand sagte etwas. Garp schrieb später, in diesem Augenblick
habe er die kurze Geschichte des jungen Kinderschänders zu den Hufen des
Pferdes ausgebreitet gesehen: die Schere, die Tube Rasiercreme. Natürlich! Der
Junge ließ sich einen Schnurrbart wachsen, vergewaltigte ein Kind und rasierte
sich den Schnurrbart (an den die meisten Kinder sich als Einziges erinnern
würden) anschließend wieder ab.
»War es das erste Mal?«, fragte
Garp den Jungen.
»Sie haben kein Recht, ihm Fragen
zu stellen«, sagte der Polizist.
Aber der Junge grinste Garp
dümmlich an. »Es war das erste Mal, dass ich erwischt wurde«, erwiderte er
frech. Als er lächelte, sah Garp, dass dem Jungen die oberen Schneidezähne
fehlten: Das Pferd hatte sie ausgetreten – da war nur noch blutendes zerfetztes
Zahnfleisch. Garp erkannte, dass dem Jungen vermutlich etwas widerfahren war,
so dass er nicht mehr viel fühlte – weder Schmerz
noch sonst etwas.
Am Ende des Reitwegs erschien
jetzt der zweite Polizist. Er führte sein Pferd am Zügel. Das Mädchen saß, in
den Mantel des Polizisten gehüllt, im Sattel. Das Mädchen hielt Garps T-Shirt
in der Hand. Sie schien niemanden zu erkennen. Der Polizist brachte sie dahin,
wo der Junge am Boden lag, aber sie sah ihn nicht direkt an. Der erste Polizist
stieg vom Pferd, ging zu dem Jungen und drehte sein blutendes Gesicht zu dem
Mädchen hoch. »War er es?«, fragte er sie. Sie starrte den jungen Mann mit
leeren Augen an. Der Kinderschänder lachte kurz auf und spie einen Mundvoll
Blut aus. Das Mädchen gab keine Antwort. Da [286] legte Garp vorsichtig seinen
Finger an den Mund des Jungen und malte ihm mit dem Blut an seinem Finger einen
Schnurrbart über die Oberlippe. Das Mädchen begann zu schreien und hörte nicht
auf zu schreien. Die Pferde mussten beruhigt werden. Das Mädchen schrie, bis
der zweite Polizist den Kinderschänder abführte. Da hörte sie auf zu schreien
und gab Garp sein T-Shirt zurück. Sie tätschelte unablässig den dichten
schwarzen Haarkamm auf dem Nacken des Pferdes. Anscheinend hatte sie noch nie auf
einem Pferd gesessen.
Garp dachte, es müsse ihr weh
getan haben, auf dem Pferderücken zu sitzen, aber plötzlich fragte sie: »Darf
ich noch mal reiten?« Garp war froh zu hören, dass sie wenigstens ihre Zunge
noch hatte.
In diesem Moment tauchte der
adrett gekleidete ältere Herr auf, dessen Schnurrbart unschuldig gewesen war:
Er kam aus dem Park getrippelt und betrat dann vorsichtig den Parkplatz, wobei
er sich ängstlich nach dem Geisteskranken umblickte, der ihm so ungestüm die
Hose hinuntergezerrt und ihn wie ein gefährlicher Allesfresser beschnüffelt
hatte. Als er Garp vor dem Polizisten stehen sah, schien er erleichtert –
offenbar nahm er an, Garp sei festgenommen worden – und schritt beherzt auf die
Gruppe zu. Garp wollte sich erst verdrücken, um sich die Missverständnisse und
die dadurch nötigen Erklärungen zu ersparen –, aber ausgerechnet da sagte der
Polizist: »Ich muss wissen, wie Sie heißen. Und was Sie machen. Außer dass Sie
im Park rumlaufen.«
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