Garp und wie er die Welt sah
da. Sie zog ihre
wundgescheuerten Knie an die Brust und schrie immer noch. »Ich tue dir doch gar
nichts«, sagte Garp. »Ich will dir doch nur helfen.« Aber das Kind schrie noch
lauter. Mein Gott, natürlich!, dachte Garp: Der Mädchenschänder hatte
wahrscheinlich genau die gleichen Worte zu ihr gesagt. »Wo ist er hin?«, fragte
er das Mädchen. Dann, in verändertem Tonfall, um sie zu überzeugen, dass er auf
ihrer Seite war: »Ich bringe ihn um!« Doch das Mädchen starrte ihn nur stumm
an, ihr Kopf zitterte, und ihre Fingernägel gruben [279] sich in ihre nackten
Oberarme. »Bitte«, sagte Garp, »sag mir, wo sind deine Sachen?« Außer seinem
verschwitzten T-Shirt hatte er nichts, was er ihr zum Anziehen geben konnte. Er
trug nur Turnhose und Turnschuhe. Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf und
begann sofort zu frieren, während das Mädchen einen lauten Schrei ausstieß und
die Hände vors Gesicht schlug. »Hab keine Angst, es ist für dich, du kannst es
anziehen«, sagte Garp und ließ das T-Shirt auf sie fallen. Aber sie wand sich
darunter hervor und trat danach; dann machte sie den Mund ganz weit auf und
biss sich in die Faust.
»Sie war noch nicht alt genug, um
schon eindeutig ein Junge oder ein Mädchen zu sein«, schrieb Garp. »Nur die
etwas aufgewölbten Brustwarzen wirkten eine Spur mädchenhaft. Ihre Scham war
noch haarlos, und sie hatte kindliche Patschhände. Sinnlich waren höchstens
ihre aufgeworfenen Lippen, aber dafür konnte sie nichts.«
Garp brach in Tränen aus. Der
Himmel war grau, und sie standen bis zu den Knöcheln in welkem Laub. Als Garp
anfing zu schluchzen, nahm das Mädchen sein T-Shirt und schlüpfte hinein. In
dieser sonderbaren Stellung – das Mädchen zusammengekauert in Garps T-Shirt zu
Füßen Garps, der aus Mitleid weinte – fanden sie die beiden berittenen
Parkpolizisten, die den Reitweg entlangkamen. Kaum hatte der eine Polizist den
vermeintlichen Kinderschänder mit seinem Opfer entdeckt, als er auch schon mit
dem Pferd zwischen sie fuhr, »wobei er«, wie Garp später schrieb, »das Mädchen
beinahe zertrampelt hätte«. Der andere Polizist ließ seinen Gummiknüppel auf
Garps Schlüsselbein niedersausen, worauf (Garp zufolge) die [280] entsprechende
Körperseite wie gelähmt war, »aber die andere nicht«. Mit »der anderen« stieß
er den Polizisten um und aus dem Sattel. » Ich war’s
doch gar nicht, Sie Scheißkerl«, brüllte er. »Ich habe sie bloß gefunden – eben,
vor einer Minute.«
Der Polizist, der im welken Laub
am Boden lag, entsicherte seine Pistole und zielte. Der andere Polizist, der
auf seinem tänzelnden Pferd saß, rief dem Mädchen etwas zu. »Ist er es
gewesen?«, brüllte er. Das Mädchen starrte auf die Pferde, auf Garp und wieder
auf die Pferde und wich verängstigt zurück. Wahrscheinlich weiß sie gar nicht,
was ihr passiert ist, dachte Garp, geschweige denn,
wer es gewesen ist. Aber das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. »Wohin ist er
gegangen?«, fragte der Polizist auf dem Pferd. Aber das Mädchen sah immer noch
Garp an. Sie zupfte sich am Kinn und rieb sich die Wangen – sie versuchte, mit
den Händen zu ihm zu sprechen. Offenbar hat sie die Sprache verloren, oder die Zunge, dachte er und musste an Ellen James denken.
»Sie meint einen Bart «, sagte der am Boden liegende Polizist. Er stand auf,
steckte aber seine Pistole noch nicht wieder in den Gürtel zurück. »Sie will
uns sagen, dass er einen Bart hatte.« Garp trug damals einen Bart.
»Es war irgendwer mit einem Bart«, sagte Garp. »Wie meiner ?«,fragte er das Mädchen und strich über seinen dunklen
runden, von Schweißtropfen glänzenden Bart. Aber das Mädchen schüttelte den
Kopf und fuhr sich mit den Fingern über die aufgeschürfte Stelle zwischen Nase
und Oberlippe.
»Ein Schnurrbart!«, rief Garp,
und das Mädchen nickte.
[281] Sie deutete den Weg entlang,
den Garp gekommen war, aber Garp erinnerte sich, dass er am Parkeingang
niemanden gesehen hatte. Der Polizist duckte sich auf seinem Pferd und sprengte
durch das trockene Laub davon. Der andere Polizist beruhigte sein Pferd, stieg
aber noch nicht wieder auf. »Wickeln Sie sie warm ein, oder suchen Sie ihre
Sachen, damit sie sich etwas überziehen kann«, sagte Garp zu ihm und lief los,
hinter dem ersten Polizisten her; er wusste, dass es Dinge gab, die man aus
normaler Augenhöhe sehen konnte, aber nicht vom Pferderücken. Außerdem war Garp
so verrückt mit seinem Laufen, dass er sich
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