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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Verkäuferinnen
anderen Kunden mit den Worten vor: »Das ist Mr. Garp, der den Perversen im Park
geschnappt hat.«
    [290]  »Welchen Perversen?«
    »Den vom Stadtpark. Den
Schnurrbartjüngling. Er lauerte kleinen Mädchen auf.«
    »Kindern?«
    »Nun, Mr. Garp ist der, der ihn
geschnappt hat.«
    »Na, genau genommen«, pflegte
Garp dann zu sagen, »war es der berittene Polizist.«
    »Er hat ihm sogar alle
Vorderzähne ausgeschlagen!«, sollten sie entzückt krähen – der Mann vom
Drugstore und diese und jene Verkäuferin.
    »Oh, das war in Wirklichkeit das
Pferd«, gestand Garp bescheiden ein.
    Und manchmal fragte jemand: »Was
machen Sie eigentlich, Mr. Garp?«
    Das dann eintretende Schweigen
war Garp peinlich. Er stand da und dachte, dass es wahrscheinlich das Beste
war, wenn er sagte, dass er lief – und davon lebte.
Er streifte in den Parks umher: ein hauptberuflicher Kinderschänder-Schnapper.
Er lungerte an Telefonzellen herum, wie Superman – und wartete auf
Katastrophen. All das würde ihnen plausibler vorkommen als das, was er wirklich
machte.
    »Ich bin Schriftsteller«,
bekannte Garp schließlich. Daraufhin malte sich Enttäuschung – sogar Misstrauen – auf die eben noch bewundernden Gesichter.
    Um die Sache noch schlimmer zu
machen, ließ Garp die Dreierpackung Gummis fallen.
    »A -ha !«,
rief der alte Mann. »Sieh mal einer an! Was haben wir denn damit vor?«
    Was kann man wohl damit
vorhaben!, dachte Garp.
    »Ein Perverser, der frei
herumlaufen darf«, versicherte [291]  der alte Herr dem Ladeninhaber. »Auf der Jagd
nach Unschuldigen, die er schänden und entehren kann!«
    Die Selbstgerechtigkeit des alten
Tölpels war so entnervend, dass Garp absolut kein Bedürfnis hatte, das
Missverständnis aufzuklären; er schwelgte vielmehr in der Erinnerung daran, wie
er dem alten Vogel im Park die Hose hinuntergezogen hatte, und hatte nicht die
Spur eines schlechten Gewissens.
    Einige Zeit später machte Garp
die Erfahrung, dass der alte Herr kein Monopol auf Selbstgerechtigkeit hatte.
Garp war mit Duncan zu einem Basketballmatch der Highschool gefahren und
stellte sehr zu seinem Missfallen fest, dass der Kartenabreißer niemand anders
als der Junge mit dem Schnurrbart war – der wahre Kinderschänder, der das
wehrlose Mädchen im Stadtpark überfallen hatte.
    »Sie sind draußen «, sagte Garp verblüfft. Der Junge grinste Duncan unbekümmert an.
    »Ein Erwachsener, ein Kind«,
sagte er und riss die Karten ab.
    »Wie sind Sie denn
freigekommen?«, fragte Garp. Er bebte vor Zorn.
    »Kein Mensch konnte etwas
beweisen«, sagte der Junge hochmütig. »Die blöde Gans wollte nicht einmal reden. « Garp musste wieder an die elfjährige Ellen James
und ihre abgeschnittene Zunge denken.
    Plötzlich konnte er dem alten
Mann, dem er so gemein die Hose hinuntergezogen hatte, seine Wut nachfühlen. Er
empfand die Ungerechtigkeit wie einen furchtbaren Stich und konnte sich jetzt
sogar vorstellen, dass eine sehr unglückliche Frau sich aus Verzweiflung die
Zunge abschnitt. [292]  Ihm war bewusst, dass er den Schnurrbartjungen am liebsten
auf der Stelle – vor Duncan – zusammengeschlagen hätte. Er wünschte, er könnte
ihn auf der Stelle zum Krüppel schlagen, das geschähe ihm ganz recht.
    Aber da war eine Menschenmenge,
die um Karten für das Basketballmatch anstand, und Garp hielt sie auf.
    »Gehen Sie weiter, Sie
Waldschrat«, sagte der Junge zu Garp, und in seinem Gesichtsausdruck las Garp
die ganze Gehässigkeit der Welt. Über der Oberlippe des Jünglings prangte der
widerliche Beweis, dass er sich abermals einen
Schnurrbart wachsen ließ.
    Jahre später sah er auch das Kind
wieder, das inzwischen ein fast erwachsenes junges Mädchen war; er erkannte sie
nur wieder, weil sie ihn zuerst wiedererkannte. Er kam gerade aus dem Kino – es
war in einem anderen Ort –, und sie stand in der Schlange der Leute, die
hineinwollten. Sie war in Begleitung von einigen anderen jungen Leuten.
    »Hallo, wie geht es Ihnen?«,
fragte Garp. Er war froh zu sehen, dass sie Freunde hatte. Daraus schloss er,
dass sie normal war.
    »Ist der Film gut?«, fragte das
Mädchen.
    »Sie sind ja erwachsen
geworden!«, sagte Garp. Das Mädchen errötete, und ihm wurde klar, wie dumm er
daherredete. »Ich meine, es ist nun schon so lange her – lange genug, um es zu
vergessen!«, fügte er freundlich hinzu. Ihre Freunde betraten das Kino, und das
Mädchen sah ihnen nach, um sicherzugehen, dass sie außer Hörweite waren.
    »Ja, ich

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