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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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überängstlicher Vater war, und hoffte,
das zweite Kind könnte Duncan diesbezüglich entlasten und einen Teil der
überschüssigen Angst absorbieren.
    »Ich bin sehr glücklich«, sagte
Helen. »Wenn du noch [276]  ein Kind willst, dann machen wir eins. Nur wünschte ich
mir, du würdest ein bisschen zur Ruhe kommen und du wärst glücklicher. Du hast
ein gutes Buch geschrieben und wirst bald ein zweites schreiben. Hast du nicht
genau das immer gewollt?«
    Aber er schimpfte weiter auf die
Rezensenten seines Erstlingsund stöhnte über die
Verkaufszahlen, seine Mutter und ihre »speichelleckerischen« Freundinnen. Bis
Helen der Kragen platzte: »Du willst zu viel. Zu viel unqualifiziertes Lob oder
zu viel unqualifizierte Liebe – jedenfalls irgendetwas Unqualifiziertes.
Muss denn die ganze Welt ›Ich liebe deinen Schreibstil‹ zu dir sagen oder gar
›Ich liebe dich‹. Und das ist mehr als zu viel. Das ist sogar krank.«
    »Aber genau das hast du gesagt«,
erinnerte er sie. »›Ich liebe deinen Schreibstil, ich liebe dich.‹ Das waren
genau deine Worte.«
    »Aber es kann nur eine wie mich
geben«, erinnerte ihn Helen.
    Es konnte wahrhaftig nur eine wie
sie geben, und er liebte sie sehr. Er würde sie immer »die klügste Entscheidung
meines Lebens« nennen. Später würde er auch einige unkluge Entscheidungen
treffen, aber in den ersten fünf Jahren seiner Ehe mit Helen war er ihr nur ein
einziges Mal untreu – und auch das nur kurz.
    Es war eine Babysitterin von dem
College, an dem Helen unterrichtete, eine Anfängerin aus Helens Proseminar
Englische Literatur für Anfänger. Sie war sehr nett zu Duncan – auch wenn sie
keine herausragende Studentin war, wie Helen gesagt hatte. Sie hieß Cindy, und
sie hatte Zaudern [277]  von Garp gelesen und war
angemessen beeindruckt. Wenn er sie nach Haus fuhr, stellte sie ihm Fragen über
Fragen nach seiner Arbeit: Wie sind Sie darauf gekommen? Und warum haben Sie es so gemacht? Sie war
ein winziges Ding, nichts als Flattern und Zittern und Gurren – so
vertrauensselig und dumm wie die Tauben in Steering. Helen hatte ihr den
Spitznamen »Turteltäubchen« gegeben, aber Garp fühlte sich von ihr angezogen;
er gab ihr keinen Spitznamen. Die Familie Percy hatte ihm eine immerwährende
Abneigung gegen Kose- und Spitznamen eingeflößt. Und ihm gefielen Cindys
Fragen.
    Cindy ging vom College ab, weil
sie fand, ein reines Mädchencollege sei nicht das Richtige für sie; sie hatte das
Bedürfnis, mit Erwachsenen zusammenzuleben, und mit Männern, sagte sie, und
obwohl das College ihr erlaubte, im zweiten Semester ihres ersten Jahres in
eine eigene kleine Wohnung außerhalb des Campus zu ziehen, fand sie das College
nach wie vor zu »restriktiv« und wollte lieber in einer »realeren Umgebung«
leben. Sie stellte sich vor, dass Garps Wien eine »realere Umgebung« gewesen
war, obwohl Garp sie nach Kräften vom Gegenteil zu überzeugen versuchte.
Turteltäubchen, dachte Garp, hatte ein Spatzenhirn und war so weich und formbar
wie eine Banane. Aber er begehrte sie, erkannte er, und er betrachtete sie
schlicht als verfügbar – wie die Huren in der Kärntner Straße war sie auf Abruf
für ihn verfügbar. Und er würde ihretwegen kaum lügen müssen.
    Helen las ihm eine Rezension aus
einem bekannten Nachrichtenmagazin vor; darin wurde Zaudern als »ein vielschichtiger und bewegender Roman« bezeichnet, als [278]  »ein Buch mit
starken historischen Anklängen… und einer dramatischen Handlung, in der es um
die Sehnsüchte und Qualen der Jugend geht«.
    »Ich scheiße auf ›die Sehnsüchte und Qualen der Jugend‹«, sagte Garp. Eine dieser
jugendlichen Sehnsüchte verwirrte ihn derzeit.
    Und was die »dramatische
Handlung« betraf: In den ersten fünf Jahren seiner Ehe mit Helen erlebte T.S.
Garp nur ein einziges jener Dramen, wie das Leben sie schrieb, und es hatte
nicht einmal sehr viel mit ihm zu tun.
    Garp war im Stadtpark gelaufen,
als er das Mädchen entdeckte, eine nackte Zehnjährige, die vor ihm auf dem
Reitweg lief. Als sie merkte, dass er sie einholte, strauchelte sie, fiel hin
und hielt sich die Hände vors Gesicht; dann hielt sie sich die Hände vor die
Scham und dann vor ihre kaum vorhandenen Brüste. Es war ein kalter Tag im
Spätherbst, und Garp sah das Blut an den Schenkeln des Mädchens und ihre
angstgeweiteten Augen. Je näher er kam, desto lauter schrie sie.
    »Was ist passiert?«, fragte er,
obwohl er es genau wusste. Er sah sich um, aber es war niemand

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