G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke
ganz genau so, wie Vanna immer gewußt und erwartet hatte, daß es eines Tages passieren würde.
Brainstorm ritt voll auf der Woge der allgemeinen ökonomischen und kulturellen Wiedergeburt Nord-Manhattans, die bereits eine zweite Harlem-Renaissance verhieß. Das hungrige junge Unternehmen, dessen Wurzeln in der unterregionalen PR-Arbeit lagen, hatte, als Vanna zum Team hinzugestoßen war, gerade angefangen, in die Welt des nationalen und internationalen Werbemanagements aufzusteigen. Brainstorms größter Auftraggeber war ein anderes afroamerikanisch geleitetes Unternehmen: Carver-Biotex Designer Food, »die Leute mit dem linksdrehenden Zucker«.
Linksdrehender Zucker war der letzte, ja endgültige Schrei in Sachen kalorienarme Süßmittel: ein molekulares Spiegelbild normalen »rechtsdrehenden« Zuckers, das sich in nichts, weder hinsichtlich seines Aussehens noch seiner Konsistenz oder seines Geschmacks, vom Original unterschied - außer was die Tatsache anbelangte, daß der menschliche Verdauungsapparat keine geeigneten Enzyme besaß, um es aufzuspalten und zu assimilieren. Linksdrehender Zucker machte folglich, selbst tonnenweise eingenommen, nicht dick, und Laboruntersuchungen hatten darüber hinaus nachgewiesen, daß Ratten davon keinen Krebs bekamen. Da Saccharin und Aspartame damit praktisch obsolet geworden waren, stand Carver-Biotex nunmehr im Begriff, den gesamten Zuckerersatzmarkt zu beerben, und je mehr das Unternehmen wuchs, desto mehr würde Brainstorm mit ihm wachsen.
Vannas erste Aufgabe als Nachwuchs-Meinungsgestalterin bestand darin, als Mitglied eines gemischten Carver-Biotex/Brain-storm-»Denkteams« neue Anwendungsbereiche für das Produkt zu ersinnen. Eines Morgens, während sie Halbfettkaffeeweiß in ihren Kaffee rührte, meinte Vanna zum Spaß, man müßte links-und rechtsdrehenden Zucker zu gleichen Teilen mischen und das Ganze »Fifty-Fifty« nennen. Die anderen Mitglieder des Teams griffen die Idee auf und gelangten nach vielem Hin und Her zu dem Schluß, daß solch ein Mittelding tatsächlich das
Richtige sein könnte, um die signifikante Minderheit von Verbrauchern zu gewinnen, die sich dagegen sträubten, Neues auszuprobieren. Der bedeutungslose, aber beruhigende Slogan, auf den Vanna kam - »Eine Hand wäscht die andere« -, würde übervorsichtige Zeitgenossen dazu ermutigen, wenn sie sich schon nicht trauten, direkt auf einen ganz neuen Zuckerersatz umzusteigen, es zunächst mit Fifty-Fifty zu probieren.
Um es kurz zu machen - Fifty-Fifty wurde ein Riesenhit, und zwar nicht nur bei den Verbrauchern, sondern auch bei der Zuckerrohrlobby, die bis zur Einführung von Fifty-Fifty damit gedroht hatte, gerichtliche Schritte zu ergreifen, um ihren Marktanteil zu verteidigen. Brainstorm belohnte Vanna mit einer Gehaltserhöhung und einer Beförderung, und der Generaldirektor von Carver-Biotex schickte ihr eine io-Kilo-Packung linksdrehenden Zucker mit massivgoldenem Portionsspender. Ihre Teamkollegen luden sie auf ein paar Drinks in den Betsy Ross Saloon ein; einer von ihnen, ein dunkeläugiger Sudanese namens Terry, blieb, als die anderen gingen, und tanzte mit ihr, engumschlungen, bis weit in die Puppen. Vannas Zukunft strahlte rosiger denn je.
Der Sommer kam. Im August beschloß Vanna, sich einen lang erträumten Campingurlaub zu gönnen: Sie nahm sich ein paar Tage frei, stopfte eine Low-Tech-Ausrüstung in einen Leinwandrucksack und fuhr nach Kanada, um in der Quebecer Bun-des-Ur-Wildnis-Zone ihre Survival-Fertigkeiten auf die Probe zu stellen. Richtig gehört: Vanna Domingo, der Alptraum aller Ökofreaks, die auf freier Wildbahn unter loups und Bibern herumtollte. Allein herumtollte - Terry hatte keinen Urlaub bekommen, und Vanna, noch ganz die Selbständige, wollte nicht warten. Sie blieb zwei Wochen lang in der Zone, ernährte sich von dem, was die Natur hergab, und bekam während der ganzen Zeit weder eine Zeitung noch einen Fernseher zu Gesicht. Als sie in die Zivilisation zurückkehrte, waren alle ihre Kollegen bei Brainstorm tot, und der Mitarbeiterstab von Carver-Biotex war unrettbar dezimiert worden.
Die Afrikanische Pandemie von 04 war in vielerlei Hinsicht die ideale Seuche für das Informationszeitalter, geradezu maßgeschneidert für den Geist der Zeit. Anders als traditionelle Infektionskrankheiten schien sie sich nicht von einem bestimmten Brandherd auszubreiten, sondern flammte in jeder Ecke des Weltdorfs gleichzeitig auf (die Idee, daß sie »in Idaho begann«,
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