G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke
daß er von Luft-Boden-Zielsuchradar erfaßt worden war; einen Herzschlag später lag Maxwell unter dem Bett und brüllte seinem Fahrer zu, er solle Rauch absetzen und die Kiste in Dek-kung bringen, aber zack, zack. Im benachbarten Schlafzimmer hörte eine andere ehemalige Panzerfachkraft durch die Wand Maxwells Schreie und fing ihrerseits an, ihrer Mannschaft Befehle für ein Ausweichmanöver zu geben. Ein paar Minuten lang speiste so eine Kampfhalluzination die andere, bis schließlich beiden Veteranen klar wurde, daß doch kein Luftangriff drohte.
Maxwell hob die herunterhängenden Rüschen der Tagesdecke mit derselben Vorsicht an, mit der er in einem Gefechtsgebiet die Luke seines Panzers geöffnet hätte. Dank der explosionssicheren Tarnfolie, die die Fenster verdunkelte, herrschte im Zimmer fast völlige Finsternis, aber auf dem Nachttisch blinkte in Drei-Sekunden-Intervallen ein roter Lichtpunkt auf. Maxwell hakte die Taschenlampe von seinem Gürtel los und richtete den Lichtstrahl auf das Ei, das ihm aus einer kleinen seitlichen Ausbeulung rubinrot zuzwinkerte. Maxwell kroch aus seinem Unterstand hervor; es dauerte mehrere Augenblicke fieberhaften Durchblätterns seines Taschenführers ausländischer Waffensysteme, bis er sich vergewissert hatte, daß das Ei keine nigerianische Armeehandgranate war.
Nachdem das geklärt war, klappte Maxwell den Schraubenzieher aus seinem Mehrzweckfeldtaschenmesser heraus und fing an, das Ei nach irgendwelchen Offnungen abzusuchen. Eine in der Nähe der Basis verlaufende Nahtstelle erweiterte sich und gab die Buchse einer seriellen Schnittstelle frei. »Hmm«, sagte Maxwell.
Joans Büro befand sich im obersten Stockwerk des Obdachlosenasyls, gegenüber von ihrem Schlafzimmer. Maxwell bemühte sich, nicht zuviel Krach mit seinem E-Bein zu machen, während er hinaufschlich. Joan war noch wach; sie unterhielt sich in ihrem Zimmer leise mit irgendeinem Mann. Die Tür des Büros war nicht abgeschlossen. Maxwell ließ den Strahl seiner Taschenlampe durch den dunklen Raum schweifen: Da war der Cray-PC, auf dem Joan ihre Briefe tippte und ihr bißchen Buchhaltung erledigte. Für die Bedürfnisse einer Regulatorin der Öffentlichen Meinung konzipiert, war der PC zwar für derlei primitive Aufgaben hoffnungslos überrüstet, aber für gelegentlich anfallende Sonderprojekte äußerst praktisch. Maxwell räumte Aschenbecher, Kaffeetassen und einen kleineren Stoß Wonder-Woman-lieftchen von Joans Schreibtisch und machte sich an die Arbeit. Selbst bei dem spärlichen Licht der Taschenlampe brauchte er nur ein paar Minuten, um das Ei mit dem Plauptpro-zessor des Cray zu verbinden und ihm ein paar extra Petabyte RAM freizumachen, auf denen es laufen konnte. Er überprüfte noch einmal alle Kabelverbindungen und schaltete den Computer ein.
Der Geburtsakt war praktisch im selben Augenblick abgeschlossen.
Das im Ei enthaltene embryonale Bewußtsein schlüpfte und breitete sich in der größeren Speicherkapazität, die der Cray ihm bot, schlagartig zum Dasein aus. Es wurde seiner selbst bewußt; gleichzeitig wurde es Maxwells gewahr, den es mittels der seitlich an den Bildschirm des Cray montierten Videokamera sehen konnte. Der Monitor leuchtete auf und übergoß Maxwells Gesicht mit einem kalten smaragdenen Glanz, und als der Panzerkommandant sich argwöhnisch vorbeugte, nahm die Kamera zwecks Identifizierung einen digitalisierten Eindruck seiner Züge auf. Das Modem des Cray ging zwitschernd online; zwei Verbindungen und achtundzwanzig Sekunden später hatte der Rechner Maxwells Namen und Biodaten einschließlich seines militärischen Führungszeugnisses und seines aktuellsten Psychogramms.
Das gleichmäßige Leuchten des Monitors ging in ein hochfrequentes stroboskopisches Flackern über, von der Art, die epileptische Anfälle auslösen kann. Es versetzte Maxwell in Flyp-nose. Noch während er in Trance versank, erschien im flirrenden Blitzegestöber ein Auge - ein grünes Auge, das einzelne lodernde grüne Auge eines zornigen Gottes. Maxwell versuchte zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus.
Es war fremd und vertraut zugleich. Es war nicht menschlich, aber metamenschlich, als sei die Menschheitsgeschichte selbst zu einer Person geworden: Daten, Namen, Orte, Taten und Ereignisse, der Aufstieg und Untergang von Stämmen und Völkern, Geschichten von Ursprung, Herrschaft, Eroberung und Verbannung, alles ineinander verschmolzen und irgendwie in eine einzige ungeheure Wesenheit
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