G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke
sie nicht gewesen sein, feststellen zu müssen, daß am Ende des Demonstrationsmarsches kein Utopia wartet.«
»Ach wo. Ihr Trauma war weniger schwerwiegend. Ein Nachteil des Umstands, daß man zu einer geschichtenerzählenden Spezies gehört, ist die Neigung zu vergessen, daß das Leben keine Geschichte ist, wie groß das Bedürfnis auch sei, es als eine anzusehen. Und einer der - vom Standpunkt des Geschichtenerzählens - größten Fehler des Lebens ist, daß es keinen Abschluß hat.«
»Abschluß in welchem Sinne?«
»Im Sinne einer Zusammenführung, so, daß alle Erzählstränge zusammenkommen und nach einem letzten Höhepunkt säuberlich verknotet werden und keine losen Enden mehr übrigbleiben. Das wirkliche Leben ist nie so ordentlich, und es hört nicht einfach deswegen auf zu passieren, nur weil jemand einen Sieg errungen hat. Wo in einem Roman das Wort >Ende< käme, geht es in der Wirklichkeit weiter, folgt ein Ereignis dem anderen.«
»Das heißt also, selbst wenn das Frauenwahlrecht wirklich zum Paradies auf Erden geführt hätte ...«
»... hätte trotzdem als nächstes irgend etwas passieren müssen«, sagte Kite. »Weitere Entwicklungen: Neue Menschen wachsen heran und wandern ein, mit ihnen kommen neue Ideen, die Alteren und Alteingesessenen überdenken daraufhin ihre eigenen Ansichten, die äußeren Bedingungen ändern sich...«
»Neue Konflikte zeichnen sich ab«, sagte Joan. »Ein weiterer Krieg.«
»Naja. Ein weiterer Kampf jedenfalls. Und keiner fragt danach, ob dir nach dem letzten noch genug Energie oder Durchhaltewillen übriggeblieben ist. Das war es, was meine Suffragette so mitgenommen hat: erfahren zu müssen, daß das einzige wirklich sichere Gegenmittel gegen den Kampf und das dadurch bedingte Leiden darin besteht, der Zukunft zu entfliehen. Und die einzige Möglichkeit, das zu bewerkstelligen - die einzige reale Möglichkeit, in Ermangelung eines utopischen Märchenschlusses -, ist zu sterben, bevor die Zukunft ankommt. Hoffnung ist also die Entscheidung, lieber eine Realistin als eine Leiche zu sein.«
»Keine allzu schwere Entscheidung, hm?«
»Für mich nie gewesen, nein. Ich hab immer wieder mal genug von dem ganzen Blödsinn, aber so genug doch nie.«
Joan lächelte. »Daher auch dein ungebührlich fortgeschrittenes Alter.«
»Da hast du verdammt recht«, bestätigte Kite. »Weißt du, was der altägyptische Wesir Ptahhotep zu dem ganzen Thema zu sagen hatte? Und wohlgemerkt, ich hab's aus dem Zitatenlexikon, nicht, daß ich den Männ persönlich gekannt hätte.«
»Und, was hat er gesagt?«
»>Sei vergnügt, solange du am Leben bist.< Vermutlich nur ne vorchristliche Version von >Mach's gut<, aber ich hab eigentlich immer gefunden, daß das ein guter Ratschlag ist.«
Kite signalisierte Sam 101, daß er ihr Rum nachschenken sollte, und Joan schüttelte eine neue Zigarette aus dem Päckchen. Zwei FBI-Agenten kamen herein und sahen sich im Salonwagen nach blinden Passagieren um. Kurz nachdem sie wieder gegangen waren, blies die Zugführerin in ihre Trillerpfeife; die Türen schlossen sich und rasteten zischend ein, und der Thunderbolt glitt auf seinem Magnetkissen aus Grand Central hinaus. Bei einer Spitzengeschwindigkeit von 550 Stundenkilometern war Atlantic City nur dreißig Minuten entfernt.
»Erzählen Sie uns doch etwas mehr über dieses Erdbeben an der Ostküste«, sagte Xander Menudo. »Glauben Sie wirklich, daß es kommen könnte? In Chemie war ich zwar während der ganzen High-School Nachhilfeempfänger, und so weiß ich nichts mehr von angewandter Tektronik oder wie das Zeug heißt, aber ich erinnere mich doch, irgendwo gehört zu haben, daß New York City auf einer festen Gesteinsschicht gebaut ist, also -«
»Scheinbariesten«, sagte Tad Winston Peller. »Scheinbar festen. Und sie bewegt sich doch ...«
2008, Teil zwei: Ein Pakt mit dem Teufel am Ende der Welt
Es gab keinen Transrapid, der Joan und Harry im Juli 08 zu ihrem ersten gemeinsamen Arbeitsessen hätte bringen können. Nach reiflicher Überlegung und einem langen Gespräch mit Lexa hatte Joan eingewilligt, über ihren Arbeitsvertrag zu diskutieren, aber nur unter der Voraussetzung, daß man ihr die Wahl des Verhandlungsortes überließ. Und so jettete Harry Gant fünf Wochen nach der Mülldeponie-Demo nach New York (weiß um die Nase während des ganzen Fluges, aber ihm blieb keine andere Wahl: Joans Essenspläne erforderten schon so mehr Zeit, als er sich eigenüich hätte freinehmen dürfen).
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