Gast im Weltraum
Selbsterhaltungstrieb nicht.“
„Was hat dein Selbsterhaltungstrieb mit Goobar zu tun?“ fragte ich.
„Sehr viel. Wir waren einmal zusammen im Pamir…“
„Entschuldige“, unterbrach ich ihn, „ist Goobar ein guter Bergsteiger? Wie verhält er sich beim Klettern?“
„Warte doch, das will ich ja gerade erzählen! Gewiß, er ist ein guter Alpinist, aber… Wir trafen auf einen kleinen, aber schwierigen Kamin. Goobar blieb plötzlich stehen und sagte, ihm sei ein wichtiger Gedanke gekommen. Ich empfahl ihm, den Gedanken niederzuschreiben. Er antwortete, das sei nicht notwendig, er würde ihn nicht vergessen. Er vergaß ihn tatsächlich nicht, aber dafür vergaß er ganz, wo er sich befand und was er tat. Beinahe hätte er sich das Genick gebrochen und uns mit in die Tiefe gerissen. Er sah weder die Berge noch die Abgründe, er sah nichts von alledem, was rings um ihn war und geschah. Als er später, auf dem Wege zur Schutzhütte, seine Berechnungen im Kopf beendet hatte, bat er uns um Entschuldigung. Ich weiß, daß er dies nur tat, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Er wußte zwar, was vorgefallen war, hatte aber nicht die geringsten Gewissensbisse, von Angst ganz zu schweigen. Ich kann euch nur das eine sagen: Goobar ist ein Mensch, dem der Selbsterhaltungstrieb fehlt.“ Diokles hatte die letzten Worte mit unverhohlener Gereiztheit hervorgestoßen.
Unten im Saal war der Gesang verstummt. Minutenlang drang Stimmenge wirr zu uns herauf .Einzelne versuchten, ein neues Lied zu singen, es ging aber in dem Durcheinander unter. Schließlich setzte sich eine wunderbare Altstimme durch. Es war ein langsames, schwermütiges Lied, das etwas ungemein Beruhigendes, Einwiegendes an sich hatte.
„Eigentlich ist er immer derselbe“, sagte Diokles, als könnte er sich nicht vom Zwang dieses Themas befreien. „Hast du schon gehört, wie seine Laufbahn begann? Seine Großmutter übergab ihn als sechsjähriges Kind der Obhut seines Onkels Klaudius Goobar, der ein ziemlich bedeutender Mathematiker war. Vielleicht kennst du diese oder jene Arbeit von ihm. Goobars Großmutter hatte dem Onkel nahegelegt, den Jungen niemals allein zu lassen. Der Onkel nahm ihn deshalb in sein Arbeitszimmer mit, setzte ihn in einen Winkel zu den Spielsachen und arbeitete weiter. Der Kleine spielte ganz leise, er war ein außerordentlich stilles Kind. Eines Abends diskutierte der alte Klaudius an einer schwierigen Stelle erbittert mit dem Automaten. Plötzlich rief das Kind aus seinem Winkel: ,Onkel, du mußt die Matrize der linearen Operatoren einlegen.‘ Darauf beschäftigte sich der Kleine, als wäre nichts geschehen, wieder mit seinem Kreisel. Dem Onkel war, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen – denn es war die gesuchte Lösung.“
„Es kommt selten vor, daß sogenannte Wunderkinder später die in sie gesetzten Hoffnungen rechtfertigen“, sagte ich. „Er hat sie aber nicht nur gerechtfertigt, sondern weit übertroffen.“
Ein Automat kam vorüber. Diokles hielt ihn an und trank gleich zwei Glas Wein hintereinander. Seine Wangen röteten sich, das Blut pulste sichtbar in den Schläfenadern. Sicherlich wäre es besser gewesen, er hätte nicht mehr getrunken! Sein ganzes Wesen strömte Unruhe aus. In allem, was er über Goobar sagte, in seinen Worten, in seinem Gesicht, in den Bewegungen seiner Lippen, in seiner Stimme, war Verbitterung, ja beinahe Groll.
Smur verließ uns. Seine hohe Gestalt verschwand hinter den Säulen. Wir beide schwiegen. Unter uns sangen junge Leute ein fröhliches Tanzlied. Einer schlug den Takt dazu, und auf einmal erklang ein rhythmisches Stampfen. In einem Ring von Zuschauern tanzte ein junger Mann, packte eines der Mädchen an den Hüften und wirbelte mit ihr so schnell im Kreis, daß nur noch der Schimmer ihres hellen Kleides und das wehende, goldblonde Haar zu sehen waren.
Diokles starrte auf die Tanzenden hinunter, ohne sie zu sehen. Plötzlich wandte er sich zu mir um. Sein Gesicht war verfallen. Er hatte wahrscheinlich schon vorher getrunken. Der Wein schien ihm nicht gut zu bekommen. Ich ergriff seine Hand, um ihn in seine Wohnung zu begleiten. Aber er riß sich los und sagte in unerwartet vertraulichem Ton: „Glaub mir, ich tauge nichts und gelte nichts. Ich habe sechzehn eigene Arbeiten veröffentlicht, darunter zwei wirklich gute. Aber wenn sie über mich sprechen, dann sagt keiner: ,Diokles, der die und die Forschungen angestellt hat‘, sondern stets: ,Diokles? Ach ja, der
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