Gast im Weltraum
vor mir, gleich darauf verschwand das Bild. Ich spürte natürlich nichts, und nach zwei weiteren Schritten befand ich mich in einem halbdunklen Raum. An der glatten, nackten Stahlwand saßen Soledad und Anna, die mich anblickte und fragte: „Hattest du auch schon einmal einen Abend, der dir deiner Meinung nach den Weg in das Morgen versperrte – einen wertlosen, unnützen Abend, den man verbringen muß, der träge, langsam verrinnt – einen Abend, in dem sich wie in einer Pfütze der Bodensatz aller nicht geschehenen Dinge und aller unerfüllten Träume ansammelt – einen Abend, an dem du alles anzweifelst, was du ersehnt und erhofft hast, an dem du jede begonnene Arbeit liegen läßt, an dem du froh bist, wenn jemand kommt, mag er dir noch so gleichgültig sein, weil sein Kommen den Rest von Verantwortung für die vergeudete Zeit von dir nimmt?“
„Nur ein- oder zweimal im Jahr einen solchen Abend – das macht nichts“, erwiderte Soledad. „Aber wenn sich solche Abende häufen, dann… Sag mal, es fällt dir schwer, mit ihm zu leben, nicht wahr?“
„Ja, es ist schwer, sehr schwer“, antwortete Anna. Sie blickte mich unablässig an. Da begriff ich, daß sie von mir sprach und mich nicht sah. Anscheinend befand ich mich in der Zone der videoplastischen Lichtspiegelung und war für sie unsichtbar.
„Helfen kann dir niemand, nur du selbst, und er…“
Mit angehaltenem Atem, so leise wie möglich, zog ich mich zurück. Über dieses Gespräch, dessen Zeuge ich ungewollt geworden war, mochte ich nicht nachdenken.
Am anderen Ende der Galerie standen Smur und Diokles, die beiden Mitarbeiter Goobars, und schauten in den Saal hinunter. Von dieser Stelle aus hatte man einen guten Überblick über den Teil des Saales, der frei von Tischen war. Unter uns hatte sich eine größere Gruppe um ein junges Mädchen in blauweißem Kleid versammelt. Sie sprach zu ihnen. Als sie verstummte, lachten alle. Dann begann sie ein lustiges, endlos langes Lied zu singen. Als sie die erste Strophe beendet hatte, zeigte sie auf einen aus der Runde, der nun weitersingen mußte. So lief das Lied von Mund zu Mund durch den Saal, bis es vor einer Nische anlangte, die der Automat verlassen hatte. Dort stand Goobar, an die Täfelung gelehnt. Ein junger Bursche, der gerade seine Strophe beendet hatte, wies mit dem Finger auf ihn. Einen Augenblick herrschte Stille. Dann sang der Gelehrte, ohne zu zögern, mit etwas heiserem Bariton den nächsten Vers. Lebhafter Beifall belohnte ihn. Er zeigte auf den nächsten, und das Lied wanderte weiter. Das Lächeln, mit dem Goobar seine Pflicht als Sänger getan hatte, lag noch auf seinem Gesicht, als er bereits mit einer kaum merkbaren Bewegung den kleinen Analysator aus der Tasche zog, um etwas zu berechnen.
„Das ist Goobar, wie er leibt und lebt“, sagte Diokles. „Du kannst mit ihm spielen, tanzen, singen, über Tod und Teufel sprechen – er wird niemals ganz zugegen sein.“
„Er unterhält sich aber wirklich gern“, wandte Smur ein.
„Ich weiß, ich weiß, er verstellt sich nicht… Aber was nützt das alles? Gewiß, er liebt die Menschen, doch er selbst ist nicht einer von uns. Kein neuer Mitarbeiter kann dem Drang widerstehen, Fragen an ihn zu richten, die häufig komisch und lächerlich klingen. Das sind naive Versuche, die ganz einfach von der Notwendigkeit diktiert werden, ihm näherzukommen, denn er ist und bleibt allen ein Rätsel. Ich habe oft die Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit bewundert, mit der er diese Fragen zu beantworten suchte.“
„Zum Beispiel?“ fragte ich. Unsere Blicke ruhten noch immer auf dem großen Gelehrten, der eben einen Automaten anhielt und ein Glas Wein entgegennahm. „Die meisten wollen wissen, wie er seine erstaunlichen Resultate erzielt.“ „Das ist allerdings nicht sehr klug gefragt. Und was antwortet er darauf?“ „,Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich viel denke.‘ Dieser Satz enthält trotz seiner scheinbaren Banalität eine ebenso große wie einfache Wahrheit. Sein unaufhörlich schaffender Geist formt ständig Ideenstrukturen und spielt sie gegeneinander aus. Mitunter sind dies Monate und Jahre dauernde Bemühungen um große Synthesen. Er hat den Mut, Hypothesen zu Ende zu denken, die absurd aussehen, und aus allem die letzten Konsequenzen zu ziehen. Das ist übrigens der Grund, weshalb ich niemals wieder mit ihm in die Berge gehe. Ich habe keine Lust, die toten Gegenstände durch mich zu vermehren. Das will mein
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