Gast im Weltraum

Welt mit den Augen des anderen, das Geheimnis der ständigen Gegenwart des anderen und die Freude, Sorgen und Lasten gemeinsam zu tragen. Die Leidenschaft ist nur eines von vielen verbindenden Gliedern einer Kette, die Liebkosung erwachender Sinnlichkeit wandelt sich in eine Sprache ohne Worte, die dort einsetzt, wo die gewöhnliche, alltägliche Sprache versagt. Eine solche Liebe ist einmalig, sie kann sich nicht wiederholen.
    Ich erinnere mich, daß ich mich bei den Gesprächen mit unseren Historikern, wenn sie mir über die Liebe in früheren Zeiten erzählten, nicht genug über die Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit der Gefühle unserer Vorfahren wundern konnte. Ich vermochte nicht zu begreifen, daß sie, die auf verschiedenen, wesentlichen und unwesentlichen Gebieten des Lebens Bildung verlangten, auf einem der wichtigsten, nämlich in der Erziehung der Kinder durch die Eltern, beinahe nichts forderten. Ihre Unwissenheit war offenbar sehr groß, wenn sie es wagten, dem Zufall und dem Belieben Tür und Tor zu öffnen, ohne einzusehen, daß in den ersten Lebensjahren das Kind das empfindlichste, bildsamste und aufnahmefähigste Material ist, in dem sich alle Einflüsse der Umwelt einprägen. Die Fehler oder Schäden, die ein Kind in dieser Periode mitbekommt, können häufig später nicht durch die größten Anstrengungen der Erzieher beseitigt werden.
    An Bord der Gea waren viele Männer und Frauen, die bereits auf der Erde zur Liebe herangereift waren, aber noch immer suchten. Wahrscheinlich würden die langen Jahre des Beisammenseins während unseres Fluges eine Reihe von Paaren zusammenführen. Diese Vermutung bestätigte sich. Aber die Hemmungen und Hindernisse, die die meisten überwinden mußten, waren größer, als man voraussehen konnte. Im zweiten Jahr unserer Reise kam es vor, daß sich Paare flüchtig fanden und ebenso rasch wieder trennten. Dieser Rückfall in barbarische Sitten wurde wie auf Verabredung mit Stillschweigen übergangen. Das war zu der Zeit, als die Selbstbeherrschung, das innere Gleichgewicht, die Ruhe und Ausgeglichenheit – all die Merkmale, mit denen uns die Erde ausgestattet und begabt hatte – eine äußere Form wurden, eine für die anderen sichtbare und fühlbare Oberfläche, die vortäuschen sollte, daß nichts sich geändert habe.
    Tatsächlich hatte sich der wahre, pulsierende Inhalt des Lebens verflüchtigt. Eine innere Verödung war die Folge, und unter ihr litten alle, die sich auf die unendlich großen Mühen dieser Expedition in die Leere nicht genügend vorbereitet hatten.
    Wenn wir auch bis zu einem gewissen Grade die Gefährten, ja sogar die Freunde täuschen konnten, so war es doch unmöglich, uns vor uns selbst zu verstellen. Daher rührten die Versuche, sich in die Arme der Frauen zu flüchten, sich im Sinnentaumel der Wollust zu verlieren. Wir wußten, daß uns weder gegenseitiges Mitleid noch gemeinsame Verzweiflung oder das Verlangen, die Verantwortung für das freiwillig gewählte Los abzuschütteln, auf die Dauer aneinander fesseln konnten. Das vermag nur die wahre Liebe. Trotzdem näherten sich die Männer den Frauen, und die Frauen gaben sich ihnen in schweigendem Einverständnis hin. Es waren vergebliche und – gefährliche Rettungsversuche; denn das Erlöschen der Gefühle, das dem Aufflammen folgte, schleuderte diese Zufallsgeliebten, innerlich hohl und leer und wehrlos dem bohrenden Denken verfallen, in die Untiefen ihres Daseins. Erklang dann über ihren Köpfen im Dunkel das dumpfe, Nacht für Nacht wiederkehrende Zischen und Pfeifen, dann fanden sie nicht mehr den Mut, sich in die Augen zu sehen, denn nichts, nichts war darin als das Spiegelbild der Leere, vor der sie fliehen wollten. Die vorübergehend abgeworfene Last war doppelt schwer und drückend. Sie waren beieinander und doch einsam im Begreifen und im Eingeständnis ihrer Niederlage.
    An wen ich denke, während ich diese Worte spreche? Vor allem an mich selbst, obwohl ich weiß oder zumindest mir vorstellen kann, daß mancher meiner Gef ährten ähnliche Niederlagen erlitten hat. In erster Linie aber denke ich an mich, nur an mich, denn Anna ging siegreich aus dieser Prüfung hervor, obgleich sie lange litt, vielleicht gerade deshalb, weil sie den Mut hatte zu leiden, während ich nur zu vergessen suchte.
    Wenn sich die Gesichter zweier Menschen zum Kusse nähern, kann man des anderen Antlitz nicht mehr mit dem Blick umfassen. Es ist zu nahe, aber nur physisch, in einer Nähe, die