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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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dem Arzt, ein Gespräch, das rückhaltlose Offenheit erlaubte. Meine Sonderstellung gestattete mir, die Quelle von Ereignissen aufzufinden, die Monate, ja sogar Jahre später eintraten.
    Im Laufe der Zeit bildete sich allgemein der Hang zu einem „leichten Leben“ heraus. Die Menschen unterhielten und amüsierten sich, sie scherzten gern, aber all das war und blieb oberflächlich. Hier und da entschlüpfte einem bei dem gleichgültigsten Gespräch ein Wort, eine Wendung, eine Andeutung, die von allen Anwesenden geflissentlich überhört wurde. Ich erinnere mich, daß eines Tages, als im Garten über die Arbeit der Tektonophysiker und ihre künftigen Anwendungsmöglichkeiten gesprochen wurde und dabei das Wort Erde fiel, eine Frau halblaut sagte: „Ob wir wohl jemals zurückkehren?“ Eine Sekunde lang herrschte betretenes Schweigen. Dann begannen einige zugleich rasch über etwas anderes zu sprechen.
    Die beunruhigendste Erscheinung, deren Wurzeln tief in den letzten Winkel der Psyche zu reichen schienen und sich jeder genauen Beobachtung entzogen, waren die Liebesgeschichten, die sich an Bord der Gea entwickelten.
    Hunderttausende Tiergenerationen, die vergehen mußten, bevor der Mensch entstand, hinterließen ihm als bleibendes, schweres, unabdingbares Erbteil die geschlechtliche Anziehung. Entwicklungsepochen, Zivilisationen kamen und gingen. Der Mensch, der mit der ihn umgebenden und der eigenen Natur rang und kämpfte, unternahm unzählige Versuche, Licht in die dunklen Kräfte zu bringen, die ohne seinen Willen und ohne sein Wissen in ihm lebten. So verwandelte sich allmählich der Drang nach Fortpflanzung, der das Männchen zu dem Weibchen trieb, in die Sehnsucht der Geschlechter, einander anzugehören. Jahrhundertelang unterwühlten die Befehle, Rituale und Rechtsbegriffe, die sich aus dem Zusammenprall der gesellschaftlichen Gegensätze ergaben, die Liebe und andere Teile des Gefühlslebens und stumpften sie ab. Die Hindernisse, die einer Annäherung von Mann und Frau entgegenstanden, hatten ihre Ursache im Eigentumsrecht, in religiösen Mythen und Vorurteilen. Die barbarischen Formen des Merkantilismus erniedrigten die Liebe zu einer Ware, die sich jeder zulegen konnte, der die erforderliche Kaufkraft besaß. Die Liebe wurde ein ekles Marktobjekt. Sie sollte das Aufpeitschungsmittel für erschlaffte Nerven, ein Genuß, ein Licht in der grauen, langweiligen Öde des Lebens sein. Frauen und Männer suchten in ihr Schutz vor den blinden Kataklysmen, die aus den Tiefen der damaligen Gesellschaftssysteme erwuchsen, und vor dem dumpfen Dahinvegetieren in der Alltäglichkeit des Daseins.
    Unsere Zivilisation schuf ein anderes Verhältnis der Geschlechter zueinander; es entspringt aus dem geistigen oder physischen Schaffen als dem höchsten Sinn des Seins. Die schöpferische geistige Tätigkeit kommt aus dem Körperlichen, ist seine höhere, klarere Widerspiegelung, eine ständige Wiederholung der Bewunderung und der Unruhe, die die Welt in uns erweckt. Die Menschen früherer Zeiten gaben sich den Forderungen des Geschlechts hin, ohne zu begreifen, daß die Empfängnis und das Zeugen eines neuen Wesens die höchste Verantwortung ist‚ die der Mensch auf sich nehmen kann. Generationen kamen zur Welt und gingen dahin, und das große, unverstandene Geheimnis wurde von einer zur anderen als ein Buch mit sieben Siegeln überliefert, das zu lesen und zu entziffern den späten Nachfahren Vorbehalten blieb.
    Der Mensch löst die Rätsel, die die Welt ihm aufgibt, durch seine geistige Arbeit; sie spiegelt die Ordnung der Natur als geregelte stoffliche Umwandlungen wider, die sich im Innern der Sterne‘ ebenso wie im menschlichen Körper abwickeln. Die Liebe kann nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein, da es nicht möglich ist, sie in Formeln und Mustern zu erfassen. Sie läßt sich nicht voraussehen und berechnen und ist doch in unserer vernunftbestimmten Welt eine Erfahrung oder auch ein Experiment, ohne das das Leben nicht erfüllt, nicht vollständig wäre.
    In der Liebe unserer Zeit gibt es keine Ausbrüche niederer Gefühle, kein gewaltsames Ansichziehen und Abstoßen in der Gier des Besitzenwollens, das die persönliche Freiheit beschränkt und Abhängigkeit schafft. Wie die Planeten in manchen Punkten ihrer Bahnen einander am nächsten kommen, so nähern sich Mann und Frau in Liebe so sehr, wie ein Mensch dem anderen sich nähern kann. So entsteht die Gemeinsamkeit der Träume, der Blick in die

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