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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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andere raubte mir den Schlaf. Ein sonderbares Zusammentreffen? Vielleicht; aber wie pathetisch gestaltete sich auch mit einemmal mein Leben! Ich wußte, daß dies mein erster, aber auch mein letzter olympischer Marathonlauf sein würde; denn nach der Rückkehr von der Expedition würde ich dafür zu alt sein. Vor dem Abflug siegen – wäre das nicht ein herrlicher Abschied von der Erde? Enteilen zu den Sternen, den Lorbeerkranz auf der Stirn! Als Fünfundzwanzigjähriger war ich zu philosophischen Verallgemeinerungen geneigt, deshalb sagte ich mir: Dir wurde alles zuteil, was du wolltest, das Diplom deiner beendeten Studien, die Teilnahme an der Expedition in die Sternenwelt, der olympische Lauf und die Liebe – und trotzdem bist du unglücklich! Wahrlich, wie weise ist doch das Sprichwort: „Gib dem Menschen alles, was er sich wünscht, und du erreichst damit nur, daß er sich immer mehr bedrückt fühlt.“
    In dieser Stimmung begann ich mein Training. Ich lief auf dem weiten Rund des Schlackenweges, über die grasbewachsenen Ausläufer der Dünen, durch die ausgedehnten Alleen des Universitätsparks, immer allein, die Stoppuhr in der Hand, in der heißen Junisonne, begleitet von dem ewigen Rauschen des nahen Meeres. Ich trainierte nur am Morgen. Wenn ich meine zwanzig Kilometer hinter mir hatte, dann flog ich in das Untersuchungslager, in dem seit einem Monat alle künftigen Teilnehmer der Expedition weilten. Das Lager war eine kleine Stadt inmitten alter Zedernwälder am Fuße des Karakorum; es hieß eigentlich Keriam, aber jemand hatte ihm den Namen „Fegefeuer“ gegeben, da es für seine Bewohner die Übergangsstation von der Erde zum Deck des Weltraumschiffes war. Die Atmosphäre, die in ihm herrschte, ist schwer zu beschreiben. Die Vorträge aus den verschiedenen Wissensgebieten, deren Ziel es war, jeden möglichst vielseitig auf die Reise ins All vorzubereiten, nahmen die meiste Zeit in Anspruch. Darüber hinaus fand eine gründliche körperliche Untersuchung aller künftigen Astronauten statt. Physiologen, Biologen und Ärzte in blütenweißen Mänteln liefen geschäftig in den Laboratorien hin und her, aus denen das Sausen und Pfeifen der auf höchsten Touren rotierenden Versuchskabinen an mein Ohr drang. Manchmal begegnete man unter den vielen Lebhaften, Frohen auch einem Gesicht, das wie erloschen war. Es war das Gesicht eines Menschen, dem das unwiderrufliche Urteil der Ärzte den Weg zu den Sternen gesperrt hatte.
    Zugleich aber pochte ständig das Leben an die Tore unseres Städtchens und begehrte Einlaß. Obwohl viele meiner Gefährten ihre nächsten Familienangehörigen – ihre Frauen und Kinder – mitnahmen, ließ doch ein jeder von uns jemanden auf der Erde zurück, der ihm nahestand, und es gab keine Stunde, in der sich nicht in die freudige Erwartung die Trauer des nahen Abschieds mengte.
    Ich teilte meine Zeit gewissenhaft zwischen dem Stadion und dem „Fegefeuer“. Mit Anna war ich seit Tagen nicht zusammen gewesen; ich sah sie nur spätabends auf kurze Zeit bei Fernsehbesuchen. Während des letzten Besuches, der übrigens ganz zufällig und unerwartet stattfand, kam es zu der entscheidenden Aussprache. Wie ich im stillen befürchtet hatte, sagte mir Anna, daß ihr Beruf für die Expedition wertlos sei. Sie konnte nur auf der Erde arbeiten. Ich sprach zu ihr von der Kraft des Gefühls, das Berge versetzen kann. Da fragte sie, ob ich in umgekehrter Situation ihretwegen auf meinen Arztberuf verzichten würde.
    Was sollte ich antworten? Ich spürte, daß alles zusammenbrach, daß ich sie verlor, und ich begann wirre, unsinnige Dinge zu reden. Ich forderte sie auf, einen anderen Beruf zu ergreifen oder, wenn sie mich wirklich liebhätte, überhaupt nicht mehr zu arbeiten. „Natürlich nur eine Zeitlang“, fügte ich rasch hinzu, als ich sah, daß sie blaß wurde.
    „Wolltest du mir weh tun?“ fragte sie. „Das ist dir gelungen.“
    In einer alten Redensart heißt es: „Am liebsten möchte ich in die Erde versinken.“ Bei einem Fernsehbesuch läßt sich dieser Wunsch erfüllen. Beschämt und wütend zugleich drückte ich auf den Schalter. Das Zimmer Annas, ihr Gesicht, die Augen, die Stimme – alles verschwand – wie verwunschen, im Bruchteil einer Sekunde. Ich nahm mir felsenfest vor, nicht mehr mit ihr zusammenzukommen. Ich wollte sie nicht Wiedersehen. Aber gleich am nächsten Tage fand ich einen Vorwand, der alle diese Entschlüsse über den Haufen warf: Ich mußte sie doch

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