Gast im Weltraum
Metall und lackiertem Holz betrachtete, mit denen alte Werke zu Gehör gebracht werden. Die Schneckengehäuse aus Blech, die auf Zylinder gespannten Häute, die Metallteller – das alles war komisch rührend zugleich, ja ergreifend. Sooft ich über ferne, vergangene Zeiten nachdenke, wundere ich mich über das unglaubliche Mißverhältnis zwischen der Phantasie jener Menschen, die die Musik ebensosehr liebten wie wir, und der Art, in der sie die Musik aus hölzernen Kästen, metallenen Rohren und Tiersaiten hervorbrachten.
In meinem Kopf ballten sich allmählich schemenhafte Vorstellungen, Stimmen, unausgesprochene Worte und Gedanken, unterwühlt von der Musik, die dröhnend heranflutete und wieder verebbte. Plötzlich – ich weiß nicht, wann es geschah – drang diese Musik in mich ein. Die mächtigen ergreifenden Töne zwängten sich in alte Erinnerungen, legten sie bloß, wälzten sich wie eine Sturmflut ins Haus, rissen Gerümpel und kostbarste Dinge zugleich mit sich fort, und dort, wo kurz zuvor die bescheiden eindeutige Ordnung der Alltäglichkeit geherrscht hatte, war auf einmal alles von unten nach oben gekehrt – ein dunkler Wirbel. Und dann kam es: Die Musik begann, mich in meinem tiefsten Innern zu erschüttern, ich versank in ihr. Ich wurde wütend, suchte mich dagegen aufzulehnen. Ich wollte mich nicht unterwerfen, wollte mich von diesen Klängen abschließen, sie von mir abwehren – es war vergebens. Meine Gedanken und Erinnerungen, alles, was ich war, mein ganzes Ich wurde von den rasenden Tonfluten mitgerissen, ins Unbekannte getragen, bis der letzte Widerstand brach. Wehrlos, nackt und bloß war ich das Bett eines unbarmherzigen, furchtbaren Stromes, der sich immer tiefer in mich eingrub, die festen Ufer meines Seins unterhöhlte und zum Einsturz brachte. Immer wieder kehrte er zurück, um mit verdoppelter Kraft auf mich einzustürzen. Diesen Wirbel der Vernichtung durchbrach ein unaufhörlich von neuem ertönender Ruf – eine übermenschliche Stimme rief mich.
Plötzlich verstummte alles, als hielte diese gewaltige Macht, durch die eigene Kraft und Kühnheit erschreckt, den Atem an. Eine kurze und so gewaltsame Stille trat ein, daß der Schlag des Herzens aussetzte – und dann brauste jene Melodie wieder auf, jenes unerbittliche Motiv…
Ich mußte aufstehen, den Saal verlassen. Es war nicht länger zu ertragen. Leise, heimlich, gebückt, legte ich die wenigen Schritte zur Tür zurück und war allein in dem öden, leeren Halbkreis der Marmorsäulen. Ich atmete schwer, stoßweise, wie nach einem langen, erschöpfenden Lauf – einer Flucht. Langsam stieg ich die Treppe hinunter; selbst hier verfolgte mich, wenn auch gedämpft, die Musik. Nun erst bemerkte ich, daß ich nicht allein war.
Eine Stufe höher als ich stand Anna. Schweigend ergriff ich ihre Hand. Alles glättete sich in mir, verklang. Vereinzelte, leise Töne der Sinfonie begleiteten uns in den menschenleeren Korridor. Geräuschlos glitt der Fahrstuhl in die Höhe. Noch einige Dutzend Schritte – und da war die Sterngalerie.
Ich weiß nicht – war ich dorthin gegangen oder hatte Anna mich geführt? Ich weiß es nicht. Reglos standen wir nebeneinander. Als hätten wir uns selbst im Dunkel aufgelöst, öffnete sich vor unseren Füßen die Tiefe, der Abgrund ohne Ende, ewig unveränderlich, und in ihm lag erstarrtes Licht – die furchtbaren, grausamen Sterne.
Ich drückte Annas Hände, fühlte ihre Wärme – und war doch allein. „Kind…“, flüsterte ich, „du weißt es nicht, nichts weißt du… aber er… hörst du?… er wußte von uns… alles, alles wußte er, dieser Musiker der Vergangenheit… Beethoven, dieser taube Deutsche aus dem achtzehnten Jahrhundert … Er hat das alles vorausgesehen, er hat es gewußt…“
Anna schwieg. Ich fühlte den stillen Druck ihrer Hand und klammerte mich an diese Ruhe. Aus alledem hätte ein gutes Wort entstehen können, ein Gespräch, das den Weg für die Rückkehr freigab zu etwas, was vorher war, was mir in diesem Augenblick für immer verloren schien und was doch als schwache Hoffnung stets in mir gelebt hatte.
„Nein – nichts hat er verstanden“, fuhr ich noch leiser fort, „nichts. Nur gesprochen hat er davon, und seine Stimme ist noch heute lebendig… Mir kam es vor, als blickten mich alle an; denn er sprach von Dingen, die ich mir selbst nicht laut eingestehen würde… Er kannte sogar das…“ Ich hob die Hand und wies zu den Gestirnen empor. Die Sternbilder
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