Gast im Weltraum
Äste, rüttelten an den Zweigen und weckten vergangene, aber noch immer wache und starke Erinnerungen. Im Blau über mir zogen große, formlose, zerflatternde Wolken dahin. Die tiefstehende Sonne verbarg sich zeitweise hinter ihnen, tauchte wieder auf und warf zwischen vergoldeten Wolkenrändern helle Lichtgarben auf Bäume und Sträucher, die scharf umrissene Schatten auf Rasenflächen und Wege zeichneten.
Auf den Felsen, unter dem Geröllhang, in dem unser Bach entspringt, saßen an jenem Abend vier Jungen im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren. Der jüngste von ihnen, der unter einem Granitfelsen kauerte, leckte Zuckerschaum mit Fruchtsaft. Die andächtige Versunkenheit, mit der er sich dieser Beschäftigung hingab, war so tief, daß ich unwillkürlich näher trat, um ihm zuzuschauen. Ein anderer Junge pfiff grundfalsch ein sinfonisches Motiv und schlug bei besonders schwierigen Stellen mit den Füßen den Takt. Der dritte, in dem ich erst jetzt Nils Yrjöla erkannte, saß rittlings auf einem Felssattel, hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und blickte mit einer Miene in die Weite, als wäre er der unbeschränkte Herr grenzenloser Räume. Der vierte stand am anderen Ufer des Baches, dicht am schäumenden Wasser, das in der zunehmenden Dunkelheit schwarz war wie Pech. Nur hier und da blitzten weiße Wellenkämme auf.
„Wann beginnt denn nun eigentlich diese furchtbare Leere, von der immer soviel gesprochen wird?“ fragte der jüngste einen, den ich nicht sah. Dann schleckte er weiter an seinem Zuckerschaum, und um den Genuß dieser Leckerei mit dem ernsten Gespräch in Einklang zu bringen, brach er den Stiel ab und steckte den Rest der Delikatesse in den Mund.
„Sie beginnt dann, wenn du selbst sie zum erstenmal bemerkst“, antwortete der Unsichtbare. Ich erkannte die Stimme: Ameta war es.
Gleichzeitig legte mir jemand die Hand auf den Arm – Anna.
„Wir haben uns lange nicht gesehen. Was machst du, wie geht es dir?“ fragte ich und lächelte sie an.
„Heute ist ein Konzert“, antwortete Anna sachlich.
„Ruys senior?“ erkundigte ich mich.
„Nein, diesmal ist es ein ganz altes Werk. Die Neunte von Beethoven. Kennst du sie?“
„Ich glaube, ja“, erwiderte ich. „Gehst du hin?“
„Ja, und du?“ fragte sie.
In der Ferne huschten bunte Kinderkleidchen vorüber.
„Mit dir – gern, das heißt, wenn es dir recht ist.“
Sie nickte und hob die Hand, um die Haare zu bändigen, mit denen der Wind sein Spiel trieb.
„Müssen wir gleich gehen?“ fragte ich. Ganz unerwartet bemächtigte sich meiner eine leicht angeregte, heitere Stimmung, wie nach einem Glas guten Weins.
„Nein, es beginnt erst um acht.“
„In einer Stunde also“, stellte ich mit einem Blick auf die Uhr fest. „Wollen wir uns vorher treffen?“ fügte ich lächelnd hinzu. Solche Verabredungen waren an Bord der Gea üblich; wir taten, als könnten die Wände des Schiffes unsere Bewegungsfreiheit nicht im mindesten einschränken. Auch das gehörte zu den Selbsttäuschungen, die immer stärker in den Vordergrund traten. Damals dachte ich, wie die meisten von uns, es sei eine gute Methode.
„Natürlich“, antwortete sie ernst. „Wir treffen uns in einer Stunde hier.“
„Abgemacht.“
Anna verabschiedete sich, und ich kehrte dorthin zurück, wo die Jungen gesessen hatten. Sie waren nicht mehr da. Ich schlenderte durch den Garten. Längst war mir jeder Winkel, jeder Weg, jedes Blumenbeet so vertraut, daß ich mich mit geschlossenen Augen zurechtgefunden hätte. Ich wußte auch ganz genau, an welcher Stelle die Natur in die videoplastischen Phantome überging. Plötzlich fiel mir ein, daß mein Spaziergang eine bedrückende Ähnlichkeit mit dem Dasein der Galeerensklaven im Altertum hatte, und auf einmal spürte ich eine unüberwindliche Abneigung gegen die heute besonders laut rauschenden Bäume, die Büsche, die Beete und den Bach in mir aufsteigen. Fluchtartig verließ ich den Garten. Im Korridor blieb ich unschlüssig stehen. Endlich nahm ich mir vor, in das achte Stockwerk hinaufzufahren und Rudelik einen kurzen Besuch abzustatten; aber im fünften Stock hielt ich den Aufzug an und fuhr wieder hinunter. Ich hoffte, Ameta auf dem Flugplatz anzutreffen, denn ich hatte ihn ein paarmal dort gesehen. Als ich die geräumige Halle betrat, verging mir die Lust, ihn zu suchen, denn es hätte zuviel Zeit gekostet. Mit dem ersten besten Fahrstuhl glitt ich wieder in die Höhe. Da kam mir ein schuljungenhafter Gedanke:
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