Gatling Girl
war eingetreten, allerdings war es keine angenehme gewesen. Oder besser gesagt: Sie war nicht so ausgefallen, wie es sich die junge Frau gewünscht hätte.
Zwei Männer hatten in dem Abteil gesessen, ein alter und ein junger. Ver wandt waren sie nicht miteinander, so viel hatte sie rausgekriegt, und der jüngere hatte nicht nur gut ausgesehen, sondern auch eindeutig Interesse gezeigt, sie näher kennen zu lernen. Doch der Ältere war partout nicht dazu zu bewegen gewesen, das Abteil zu verlassen. Und unter Schlaflosigkeit hatte er ebenso gelitten wie unter einem gesteigerten Mitteilungsbedürfnis. Und so hatten sich Sally und der andere Mann bis nach Washington hin nicht nur die Geschichten des Oldtimers anhören müssen, nein, sie wussten bis dahin auch über seine komplette Krankheitsgeschichte Bescheid. Sein Doc verdiente sich an ihm eine goldene Nase, da war sich Sally sicher.
Doch diesen Gedanken drängte sie beiseite, als sie den Bahnhof verließ. Das Capitol konnte sie schon von hier aus sehen, und obwohl sie wusste, dass es trotzdem noch ein ziemliches Stück Weg war, verzichtete sie darauf, eine Kut sche zu nehmen und ging zu Fuß. Immerhin hatte sie lange genug gesessen, und wer weiß, was sie da noch an alten Männern erwartete, die ihr von ihrer Impotenz berichteten.
Außerdem genoss sie es, wenn die Männer, egal ob im feinen Anzug oder in Cowboykluft, ihr bewundernd nach schauten oder vielleicht auch nachpfiffen.
Um diese Zeit glich Washington ei nem Ameisenhaufen. Elegante Landauer und Lastkutschen drängten sich auf den Straßen genauso wie die Leute auf den Sidewalks. Dessen ungeachtet bahnte sich Sally ihren Weg durch die Menge und stand wenig später vor dem Büro des Innenministers. Nachdem sie den Wachposten das Telegramm gezeigt hatte, meldeten sie diese bei Jack Seward an. Eigentlich wollte er gerade Mittagspause machen, doch als er den Namen Sally Escobar hörte, bat er sie sogleich herein.
»Ah, Miss Escobar, ich freue mich, Sie zu sehen!«, rief er aus und reichte der jungen Frau die Hand, blieb aber wie immer auf Distanz zu ihr und kehrte dann auch schleunigst wieder hinter seinen Schreibtisch zurück.
Ob er ein Problem damit hatte, wichtige Angelegenheiten einer Frau zu übertragen oder ob er einfach nur scharf auf sie war und das nur nicht zugeben wollte, fragte sich Sally auch diesmal. Doch da sie sicher war, dass sie auf diese Frage wohl keine Antwort kriegen würde, beobachtete sie sein Verhalten nur leicht amüsiert, während sie sich so elegant wie möglich auf einem der Ledersessel niederließ.
»Um was geht es, Mr. Seward?«, frag te sie in einem verführerischen Tonfall und genoss es, den Innenminister für einen kleinen Moment um Fassung ringen zu sehen. Aber wie immer gewann er diesen Kampf schon nach wenigen Sekunden, und während er eine Schublade aufzog und einen Umschlag und eine Karte hervorzog, beantwortete er ihre Frage.
»Ich weiß, dass Sie sich nach Ihrem letzten Auftrag ein paar freie Tage red lich verdient haben, aber in der Zwischenzeit hat sich etwas ereignet, dessen Aufklärung keinen Aufschub duldet.«
»Sie wissen doch, dass mich nichts aufhalten kann, wenn Sie nach mir ru fen« , antwortete Sally mit einem koketten Lächeln, doch der Innenminister blieb standhaft.
»Und Sie wissen, dass wir auf dem Gebiet der Spionage keinen besseren Agenten haben als Sie.« Seward brei tete seine Unterlagen auf dem Tisch aus und verzog dabei keine Miene. »Dieser Auftrag hat es wirklich in sich. Ich habe mich wirklich gefragt, ob das Risiko, dass Sie hierbei eingehen müssen, nicht zu hoch für eine Frau ist.«
»Und warum das?« Sally zog einen Schmollmund, wie immer, wenn sie glaubte, dass man an ihren Fähigkei ten zweifelte. »Wie Sie wissen, verstehe ich mich meiner Haut ziemlich gut zu wehren. Und bisher waren die Aufgaben, die Sie mir erteilt haben, auch keine Kinderspiele gewesen.«
»Diesmal ist es anders, Miss Escobar. Aber ich will keineswegs Ihre Fähig keiten anzweifeln; wenn ich das täte, säßen sie jetzt nicht hier. Sie sind eine hervorragende Schützin, und diese und all Ihre anderen Fähigkeiten werden Sie brauchen, um den Fall aufzuklären.«
»Sie spannen mich auf die Folter, In nenminister. Worum geht es denn?«
Jack Seward atmete tief durch, fal tete die Hände wie zum Gebet über den auf dem Schreibtisch verteilten Aktenblättern und begann dann mit seinen Ausführungen. »Vor ein paar Tagen hat es einen Überfall auf einen Regierungszug
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