Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Gehirnen von Carl Friedrich Gauß und Peter Gustav Lejeune Dirichlet über zwei Exemplare mit prachtvoll entwickelten Windungen verfügte, konzentrierte er sich auf alle nur messbaren «Schlängelungen», was zu einer beispiellosen Fülle an neuen, nie zuvor untersuchten Verhältnissen zwischen unterschiedlichen Hirnregionen führte. So verleiteten ihn anfangs die Messergebnisse zu der Annahme, Gedankenreichtum und Kreativität gehe im Geniegehirn mit einer größeren Nervenmasse einher. Doch solche direkten Relationen zwischen Geist und Anatomie wollten sich nicht so recht bestätigen.
Auf der Jagd nach zusätzlichen, in den tiefen Furchungen versteckten Quadratmillimetern Gehirnoberfläche kam er auf die Idee, kleine Quadrate von vier Millimetern Seitenlänge auf Pflanzenpapier zu zeichnen und sich daraus Messschablonen zurechtzuschneiden. Die konnte er dann über die Krümmungen und tiefer als zuvor in die Furchen hineingleiten lassen, um anschließend die Quadrate auszuzählen. Sein Sohn Hermann verfeinerte später die Methode und ging von Pflanzenpapier zu Blattgold über. Bei seinen Hirnvergoldungen erhielt er zwar weitaus günstigere Zahlen als sein Vater, aber auch sein Verfahren konnte den sich abzeichnenden Trend nicht stoppen: Einfache Göttinger Handwerker und Hausfrauen reichten mit der Größe ihrer konvexen Hirnoberfläche viel zu nahe an die Spitzenwerte des Elitequartetts Gauß-Fuchs-Dirichlet-Hermann heran, um Windungsreichtum und die daraus resultierende größere Oberfläche noch als hinreichenden Anhaltspunkt für überragende Intelligenz oder gar Genialität gelten lassen zu können.
Rudolph Wagner war als Wissenschaftler wahrhaftig und redlich genug, sich an diesem Punkt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen einzugestehen. Mit dieser ersten wissenschaftlich seriösen Elitehirnuntersuchung hatte er sich trotz der dürftigen Resultate international einen Namen gemacht. Eine Zeit lang kursierte der Begriff «Gehirn vom Gauß-Typ» als allgemein akzeptierte Bezeichnung für windungsreiche Gehirne in Diskussionen, Aufsätzen und Büchern. Vor allem in Paris wurden die Forschungen nach Wagners Vorgaben fortgesetzt. Auf den Versammlungen der dortigen Anthropologischen Gesellschaft tobten Richtungskämpfe. Nicht alle Wissenschaftler wollten den vertrauten Windungsreichtum als Anhaltspunkt für Genialität aufgeben. Und so diente Carl Friedrich Gauß’ Gehirn als Referenzexemplar gegen die als ungeheuer empfundenen Thesen, ansehnliche Windungen kämen «keineswegs selten beim amerikanischen Neger» vor [Bur: 258] oder sei «eine nicht selten angetroffene Anomalie bei Idiotengehirnen» [Oes: 149]. Später gründeten französische Akademiker sogar eine «Gesellschaft zur gegenseitigen Autopsie». Deren Mitglieder vermachten dem Club ihre Gehirne und sorgten zu Lebzeiten für Nachschub.
Im November 1998 hatte sich der Formalinspiegel im Glas mit dem Gauß’schen Gehirn bedenklich gesenkt, sodass eine Neupräparation fällig wurde. Jetzt, zwei Jahre vor der Jahrtausendwende, gab es mit der Magnetresonanz-Tomographie die Möglichkeit, das Hirn entlang aller denkbaren Achsen digital zu durchschneiden und die Daten zu speichern, ohne die «Reliquie» selbst zerstören zu müssen. «Um das Gauß’sche Gehirn – zumindest in Form dreidimensionaler Bilddaten – langfristig vor Verlust zu sichern» [Spe], legte ein Team Göttinger Wissenschaftler 1998 anlässlich der Neupräparation eine solche Sammlung von Schnittbildern an.
Als das Elitereferenzgehirn in den zylinderförmigen Magneten im Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie geschoben wurde, gab es erst einmal eine Panne. Die Software war anfällig für das damals virulente «Jahr-2000-Problem»: «Deshalb musste der Organspender vorübergehend um knapp 123 Jahre verjüngt werden: Denn erst mit dem fiktiven Geburtsdatum 1. 1. 1900 akzeptierte der Tomograph das Gauß’sche Hirnpräparat» [Spe]. Beim Einschalten des Magnetfeldes trat schließlich einer jener seltenen, kostbaren Augenblicke ein, die im Gedächtnis haftenbleiben. Denn die magnetische Kraftflussdichte im Tomographen wird in «Gauss» gemessen. * Wenn also der Name des Hirnbesitzers in den Rang einer physikalischen Maßeinheit erhoben wird, muss das Gehirn zu Lebzeiten schon ein paar bis dahin unbekannte fundamentale Einsichten in die Natur des Magnetismus gehabt haben. Das Gehirn von Carl Friedrich Gauß wird von zwanzig Kilogauss durchströmt, damit es seine innere Struktur
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