Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Adels seit genau zwei Jahren auf der Flucht vor der Guillotine oder lebt bereits dauerhaft im Exil. Die meisten deutschen Fürsten gewähren ihren Standesgenossen aus dem Nachbarland großzügig Asyl, was die neue französische Regierung jedoch als feindseligen Akt betrachtet. Carl Wilhelm Ferdinand wagt von Anfang an einen Spagat zwischen seiner Sympathie für die Revolution und der Selbstverständlichkeit einer ersten Überbrückungshilfe für die um ihr Leben fürchtenden Adligen. Einigen handverlesenen Flüchtlingen hat er sein Schloss in Wolfenbüttel zur Verfügung gestellt. Streng achtet er jedoch darauf, seine Gastfreundschaft nicht auf jene Emigranten auszudehnen, die von Deutschland aus aktiv an der Wiederherstellung der alten Verhältnisse in Frankreich arbeiten. Sie belegt er sogar mit einem Einreiseverbot.
Ferdinand will sich mit den neuen Machthabern in Paris nicht anlegen. Dort genießt der Reformer hohes Ansehen. Er gilt als treuer Freund Frankreichs und als Bewunderer der französischen Literatur und Philosophie. Von einflussreichen Kreisen in Paris wird er vor allem wegen seiner militärischen Qualitäten geschätzt, sodass der Plan reift, den Herzog von Braunschweig als Oberbefehlshaber und Neuorganisator des französischen Heeres zu gewinnen. Er soll mit keiner geringeren Aufgabe als der Wiederherstellung der Ordnung im Land betraut werden. Durch seinen Einsatz werde er – so das Kalkül der Franzosen – das Ansehen der Regierung im Ausland stärken und die Schlagkraft des Militärs erhöhen. Noch hat man Ferdinand nicht offiziell kontaktiert, aber er hat über diplomatische Kanäle bereits von den Plänen Wind bekommen und steckt in einer einzigartigen Zwickmühle. Als Repräsentant des aufgeklärten Adels fühlt er sich geschmeichelt, zu einem so wichtigen Stützpfeiler der Französischen Revolution auserkoren worden zu sein. Andererseits läuft das Angebot aus Paris darauf hinaus, dass er als preußischer General das französische Heer für einen Krieg gegen Österreich und womöglich auch gegen Preußen vorbereiten soll.
Doch in der heutigen Audienz geht es nicht um Weltpolitik. Der hochgeschätzte Professor Zimmermann hat einen Schützling mitgebracht, angeblich ein förderungswürdiges wissenschaftliches Talent. Nachdem Ferdinand schon im Jahr zuvor endgültig Abschied von seinem ehrgeizigen Schulreformprojekt hat nehmen müssen, das am Widerstand von Klerus und Adel gescheitert ist, besteht er darauf, seine besonders begabten Landeskinder persönlich kennenzulernen. Bei seinen leiblichen Kindern hat ihn die Natur in dieser Hinsicht nicht gerade verwöhnt. Ein tiefer Riss geht mitten durch die Familie. Aus der Vernunftehe mit Augusta, der ältesten Tochter des englischen Thronfolgers, Friedrich Ludwig von Hannover, sind sechs Kinder hervorgegangen. Zwei Mädchen und ein Junge sind körperlich und geistig normal entwickelt. Dagegen ist der Erstgeborene und eigentliche Thronfolger fast blind und geistig zurückgeblieben, während zwei weitere Jungen ebenfalls blind sind und sogar als «schwachsinnig» bezeichnet werden. Vielleicht ist für den Familienvater nach diesem dreifachen Unglück die Förderung ausgesuchter Talente in seiner Rolle als Landesvater auch eine Art kompensatorische Erweiterung seiner eigenen Familie.
Was in dieser für Carl so bedeutsamen Stunde im Einzelnen passiert ist, hat uns Sartorius von Waltershausen leider nicht überliefert. Schenkt man seinem Bericht Glauben, dann muss der «etwas schüchterne Junge» das anwesende Hofpersonal mit Rechenkunststücken «ergötzen», während der Herzog vermutlich ganz und gar dem Zimmermann’schen Fachurteil vertraut und wohl selbst weiß, dass Carls applauswürdige Kopfrechenfähigkeiten nicht mehr und nicht weniger sind als ein nützliches Hilfsmittel für die eigentliche Dimension der mathematischen Kreativität, um die es hier in Wirklichkeit geht. Carl Wilhelm Ferdinand mag ahnen, welche subtilen Schönheiten in der imaginären Landschaft der Zahlenlogik verborgen liegen, und die architektonischen Finessen der Theoriegebäude zu schätzen wissen. Einen direkten Zugang zu dieser Tiefenstruktur der Mathematik hat der Herzog allerdings auch nicht. Dennoch gelingt es dem «edlen Fürsten mit feinem Takt, ohne Zweifel im Bewusstsein, einen ganz ungewöhnlichen Geist vor sich zu haben, seine Liebe zu gewinnen und […] die Mittel zu gewähren, die für die weitere Ausbildung eines so merkwürdigen Talentes erforderlich» sind
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