Gauß: Eine Biographie (German Edition)
[Wal: 15]. Was heißt, dass Carl die Zusage des Herzogs hat, einen Freiplatz am Collegium Carolinum zu bekommen. Stadtarchivar Ludwig Hänselmann hat die Listen der Extraordinarienkasse durchforstet und für den 28. Juni 1791 diesen Eintrag gefunden: «Dem Hofrath Zimmermann für ein von dem Mechanicus Harborth für einen jungen Menschen namens Goes angekauftes mathematisches Besteck 5 Thaler» [Hän: 26]. Es ist die erste Spur des jungen Gauß in den Akten des herzoglichen Hofes. Am 20. Juli werden für Carl – zunächst auf zwei Jahre beschränkt – jährlich 10 Taler bereitgestellt, die Zimmermann treuhänderisch verwalten soll. Und am 12. Juli 1792 verfügt der Mäzen, dass die Zahlungen so lange fortgesetzt werden sollen, wie er das Collegium «frequentieren» werde.
Zum Abschied erhält Carl vom Herzog persönlich eine achtbändige Cicero-Ausgabe und vom 69-jährigen Staatsminister Jean-Baptiste Feronçe von Rotenkreutz noch eine zweibändige Sammlung Logarithmentafeln geschenkt. Das Standardwerk von Johann Carl Schulze ist 1778 erschienen und wird im Vorwort des Herausgebers nach unverblümten Seitenhieben auf zu teure und vermeintlich schlampige Konkurrenzprodukte als die vollständigste und präziseste Tafelsammlung in Deutschland gepriesen. Vermutlich ist es auf Zimmermanns Empfehlung angeschafft worden. Der Professor wird am besten beurteilen können, welche Werkzeuge dem Jungen in seinem augenblicklichen Entwicklungsstadium am nützlichsten sind. Zimmermanns Treffsicherheit ist atemberaubend. Aber auch dieser angesehene Mathematiker wird nicht im Entferntesten damit gerechnet haben, dass die für nicht Eingeweihte öde anmutenden Zahlenkolumnen das jugendliche Genie zu einer Entdeckung führen werden, die sehr viel später erst als ein einsamer Höhepunkt in der Primzahlforschung erkannt werden wird. Was aber haben Logarithmen mit Primzahlen zu tun?
3. Rechnen in einer eigenen Liga
Die Audienz beim Herzog wird Carls Selbstbewusstsein noch einmal einen Schub gegeben und ihn der Krämerwelt am Wendengraben, in der sich alles um Bregenwurst und Schweinemett, Lehmschlamm und Häckselstroh dreht, noch weiter entfremdet haben. Auch Carls Vater wird von den wertvollen Geschenken des Herzogs beeindruckt gewesen sein, sodass letzte Zweifel an den so ganz und gar nicht ausbeutbaren Fähigkeiten seines Sohnes wohl beseitigt sein werden.
Bei Carls Ausflügen ins Reich der Zahlentheorie fallen umfangreiche Berechnungen an. Hier leisten ihm die Logarithmentafeln von Schulze wertvolle Dienste, da sie die zeitraubenden Multiplikationen großer Zahlen in einfache Additionen verwandeln. Aber die Logarithmentafeln sind dem Zahlenjongleur, der sich bei aller inzwischen erreichten Professionalität die kindliche Neugier und den spielerischen Umgang mit Zahlen bewahrt hat, nicht allein ein willkommenes Werkzeug zur Beschleunigung seiner ausgedehnten Zahlenexperimente. Er begnügt sich nicht damit, sie einfach anzuwenden, sondern überprüft sie kritisch und spielt – immer auf der Suche nach neuen Gesetzmäßigkeiten – mit dem Material. Sein phänomenales Gedächtnis hilft ihm bei der Bewältigung enormer Zahlenmengen. So geht die Sage, er habe die ersten Dezimalstellen aller Logarithmen der Schulze-Tabellen systematisch auswendig gelernt. Das sind rund 3500 Zahlen. *
Am 18. Februar 1792 schreibt sich der Fünfzehnjährige unter der Matrikelnummer 462 schließlich am Collegium Carolinum ein, das gegenüber dem herzoglichen Schloss und keine zehn Minuten Fußweg entfernt vom Haus Nr. 1550 am Wendengraben liegt. Ungefähr zur selben Zeit erwirbt er einen weiteren Band Logarithmentafeln von Johann Heinrich Lambert: «Zusätze zu logarithmischen und trigonometrischen Tabellen». Im Anhang dieser Tafelsammlung stößt er auf eine Tabelle, in der alle Primzahlen bis 102 000 aufgelistet sind. Der Herausgeber selbst hat im Vorwort einen kryptischen Satz formuliert: «Man weiß zwar noch nicht eigentlich, was mit einer solchen Liste von Primzahlen anzufangen ist.» Offenbar hält Lambert die Beschäftigung mit Primzahlen für eine brotlose Kunst, während seine Logarithmentafeln ganz handfeste Vorteile beim Rechnen bringen.
Seit vielen tausend Jahren sind die Menschen von Primzahlen fasziniert. Sie sind die Monolithen unter den Zahlen, die sich nicht aus anderen numerischen Bausteinen zusammensetzen lassen und nur durch sich selbst und durch 1 teilbar sind. Jede andere Zahl hingegen kann man als Produkt von Primzahlen
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