Gauß: Eine Biographie (German Edition)
man dann auch seine Primzahlfrequenztabellen von 1792. Und bewiesen wird die Gauß’sche Vermutung erst vierzig Jahre nach seinem Tod.
Das Collegium Carolinum ist eine in Deutschland einmalige Erziehungs- und Bildungsanstalt von großem Renommee, in der die jungen Männer nach dem Besuch des Gymnasiums auf die Ansprüche und wissenschaftlichen Erfordernisse der Universität vorbereitet werden. Sie sind weder Schüler noch Studenten und werden im zeitgenössischen Jargon zumeist Zöglinge oder Eleven genannt. Auf einer zweiten, gleichberechtigten Ausbildungsschiene werden Sachkenntnisse für kaufmännische Berufe vermittelt, für die kein Studium erforderlich ist. Geistiger Urheber und Gründungsvater des Collegiums ist Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, ein der Aufklärung verpflichteter Theologe und Erzieher des Erbprinzen Carl Wilhelm Ferdinand und dessen Schwester Anna Amalia. In dieser einflussreichen Position legt er den Kindern des regierenden Herzogs Carl I. die Liebe zur deutschen Literatur ans Herz. Jerusalems leiblicher Sohn Carl Wilhelm wird in Wetzlar wegen einer unglücklichen Liebe sein junges Leben mit einem Pistolenschuss beenden. Goethe hatte das Leiden des jungen Jerusalem seiner Romanfigur «Werther» auferlegt – ein literarischer Welterfolg, der seinen Ruhm als Dichter begründete. Der Vater des unglücklichen Werther-Vorbilds arbeitet die Lehrpläne für das Collegium Carolinum aus, beruft die Professoren. Nach seiner Vorstellung soll der Unterricht ausschließlich in deutscher Sprache abgehalten werden – eine geradezu irritierend moderne Einstellung. Obendrein sollen sich die Pädagogen einer «von allem knechtischem Schulzwang befreiten lieberalen Erziehungs- und Unterrichtsart» befleißigen. Zu den gnädig abgesegneten Vergnügungen und «Ergötzlichkeiten» gehören beaufsichtigte Überlandkutschfahrten und Stadtspaziergänge in tadellos zugeknöpftem Outfit. Da dürfen die jungen Edelleute schon mal mit ihren knallbunten Hofkleidern und Uniformen protzen, während von Bürgersöhnen erwartet wird, dass sich der Glanz eher aus inneren Werten wie Bescheidenheit, Strebsamkeit und Demut entfalten möge, sie sich aber zumindest «in Kleidung und Wäsche ebenso reinlich als die übrigen halten» sollten. Die von Jerusalem geforderte «Lieberalität» der Lehrkräfte stößt allerdings schnell an ihre Grenzen, wenn einer dieser Halbstarken den streng reglementierten Zugang zum einzigen Billardtisch – «mittags von 1 bis 2 und nachmittags von 5 bis 7» – nicht als Gipfel der Genusssucht und Verwegenheit empfindet und sich in Ausschweifungen stürzt, bei denen womöglich gar «hitzige Getränke» oder – schlimmer noch – Schauspielerinnen und sonstiges «Weibsgesindel» involviert sind. Dann wird nicht lange gefackelt und der Eleve «wie ein räudiges Schaf sogleich fortgeschafft» [Esh].
Zur Überwachung des sittlichens Verhaltens der Jünglinge diesseits und jenseits der Anstaltsmauern sind die sogenannten Hofmeister abgestellt, die jeweils einen kleinen Kreis von Zöglingen betreuen. Sie verkörpern eine Dreifaltigkeit aus Gouvernante, Studentenkaplan und Feldwebel, verwalten das Taschengeld ihrer Schützlinge, beaufsichtigen das Studium und achten streng auf Moral- und Ehrenkodex: etwa wenn die Gebetsformeln für Morgen- und Abendandachten, die Theologiedozent Johann Christoph Köcher eigens für das Carolinum ersonnen hat, ihre wohltätige Wirkung nicht entfalten können, weil brisante, seit vielen Millionen Jahren bewährte Hormone in Blut und Hirn der Caroliner die Meditation über das Wort Gottes rigoros blockieren und alles Sinnen und Trachten in andere Richtung lenken. Da trifft es sich gut, dass Deutschlands menschenfreundlichste und «lieberalste» Pädagogen sich im Braunschweigischen Journal , das nur ein paar Nebenstraßen vom Carolinum entfernt, in Joachim Campes Verlagshaus gedruckt wird, über das Problem der Sexualaufklärung auch bereits Gedanken gemacht haben. In einem Artikel mit der Überschrift «Ueber die Art und Weise Kinder ueber den Unterschied der Geschlechter zu belehren» wendet sich ein Herr Moritz Adolph von Winterfeld gegen die innovative Idee eines Herrn Oest, man solle den Geschlechtsunterschied nicht an lebendigen, sondern an toten Menschen zeigen, «damit in der Einbildungskraft des Kindes das Bild von dem Unterschiede der Geschlechter mit dem vom Tode und Leichen zusammenschmelzen und letzteres den Lüsten, welche ersteres erregen können, zum
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