Gauß: Eine Biographie (German Edition)
darstellen. Nehmen wir beispielsweise 5050, die Zahl, mit der Carl Friedrich Gauß sein Talent erstmals in der Öffentlichkeit bewies. Sie lässt sich in die Faktoren 2 x 5 x 5 x 101 zerlegen, allesamt Primzahlen. Die Suche nach einem Muster in der Verteilung aller bisher gefundenen Primzahlen gestaltet sich jedoch als vergeblich. Die Zahlensolitäre tauchen in unregelmäßigen Abständen auf. Kein Wunder also, dass die Verteilung der Primzahlen für jeden Mathematiker eine große Herausforderung gewesen ist. Doch seit den Zeiten Euklids, der bewies, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, fielen die Ergebnisse spärlich aus: wenige unbewiesene Sätze, unbestätigte Vermutungen und bestenfalls Fragmentarisches.
Nun sitzt auch Carl, wie so viele berühmte und nie genannte Mathematiker aus vergangenen Zeiten, vor dieser chaotischen Struktur und mag sich nicht damit abfinden, dass es kein Muster in der Verteilung gibt. Er traut der Tabelle nicht, findet Fehler, korrigiert sie und zählt nun selbst die Primzahlen in großem Stil ab – eine Leidenschaft, die in den nächsten sechs Jahrzehnten nicht verglühen wird. Doch das Problem bleibt ungelöst: Es bietet sich einfach keine Methode an, die nächste Primzahl vorauszusagen. Manchmal hilft es in solchen festgefahrenen Situationen ja, einen Schritt zurückzutreten, statt die eigene Aufmerksamkeit immer wieder ins Leere laufen zu lassen. Was beispielsweise auf einem pointillistischen Gemälde bei zu naher Betrachtung nur unzusammenhängende bunte Tupfer sind, stellt sich bei richtigem Abstand als reizvolle Form und erkennbare Struktur heraus: eine weibliche Silhouette etwa oder ein Blumenbeet. Etwas ganz Ähnliches unternimmt jetzt der «Caroliner» im ersten Semester. Er stellt nicht mehr die offenbar sinnlose Frage nach einem regelmäßigen Muster aller Primzahlen, sondern tritt einen Schritt vor dem Primzahlbild zurück und sieht sich an, wie häufig die wahllos in die Menge der natürlichen Zahlen hineingetupften Elementarzahlen in bestimmten Intervallen auftreten und ob er darin irgendeine Symmetrie, Proportion oder Beziehung wahrnehmen kann.
Damit nimmt er die entscheidend neue Perspektive ein, an die vor ihm noch niemand gedacht hat. Carl stellt fest: Zwischen 1 und 100 gibt es 25 Primzahlen, zwischen 100 und 200 zählt er 21 und nur noch 16 Primzahlen zwischen 200 und 300. Dieser Abwärtstrend setzt sich fort. Nach umfangreichen Berechnungen stellt er eine Liste bis zur ersten Million der natürlichen Zahlen auf. Im Intervall von 1 bis 10 000 beispielsweise tummeln sich 1229 Solitäre. Setzt er nun 10 000 und 1229 ins Verhältnis zueinander, so erhält er den Wert 8,1. Das ist dann der durchschnittliche Abstand zwischen zwei Primzahlen in diesem Intervall. Umschließt das Intervall die Zahlen 1 bis 100 000, lautet der Wert 10,4, und bei einer weiteren Verzehnfachung auf eine Million betrachteter Zahlen beläuft er sich auf 12,7. Die Differenz zwischen 8,1, 10,4 und 12,7 ist jeweils 2,3. Aus Carls Listen geht also eindeutig hervor, dass der Abstand zwischen zwei Primzahlen langsam, aber konstant zunimmt. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Primzahlen bei größer werdenden Intervallen immer seltener werden. «Jedes Mal, wenn Gauß die obere Grenze des untersuchten Bereichs mit 10 multiplizierte, musste er zu dem Verhältnis aller Zahlen zu den Primzahlen ungefähr 2,3 addieren. Einen ganz ähnlichen Zusammenhang zwischen Multiplikation und Addition vermittelt auch der Logarithmus … Gauß hatte entdeckt, dass man die Primzahlen mit dem [sogenannten natürlichen] Logarithmus zählen kann» [Sau: 67].
So stößt der Fünfzehnjährige durch den täglichen spielerischen Umgang mit Logarithmen und Primzahltabellen in demselben Lambert’schen Tafelwerk als erster Forscher überhaupt auf eine echte Regelmäßigkeit im vermeintlichen Strukturchaos der Primzahlen. Nach zweieinhalbtausend Jahren ernstzunehmender Primzahlgeschichte ein echter Höhepunkt. Nach heutigen Maßstäben wäre der Caroliner mit Ehrungen, Preisen und Stipendien überhäuft worden. Doch was passiert? Carl behält seine schöpferische Glanztat für sich. Nicht einmal Professor Zimmermann erfährt davon. Er hat eine gute Annäherung, aber keine präzise Formel gefunden. Es ist eine Vermutung, kein Beweis. Weshalb er glaubt, seine Entdeckung sei überhaupt nicht der Rede wert. Erst knapp 60 Jahre später äußert er sich in einem Brief über seine verschwiegene Beschäftigung. Im Nachlass findet
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