Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Suche nach einer Regelmäßigkeit und einem Prinzip in einer scheinbar willkürlichen Anordnung führt bei den ersten Brüchen relativ schnell zum Erfolg. So tritt beispielsweise beim Bruch 1/7 nach sechs Ziffern hinter dem Komma die Periode auf: 0,142857 142857 142857 … und so weiter bis zum Abwinken.
Aber je größer die Zahlen im Nenner werden, desto mehr Stellen hinter dem Komma muss er ausrechnen. Beim Nenner 499 setzt die Wiederholung erst mit der 498. Stelle hinter dem Komma ein, bei 647 hat die Periode 646 Ziffern und bei der 983 sind es 982 Ziffern. Das hier sich andeutende Muster lautet also: Die Periode eines Dezimalbruchs hat eine Ziffer weniger als die Zahl im Nenner selbst. Nun gibt es aber auch viele Primzahlbrüche im Bereich zwischen 1 und 1000, auf die diese Regel nicht zutrifft und die Periode eine wesentlich geringere Ziffernfolge aufweist. Niemals aber holt die Anzahl der periodischen Ziffern die Zahl im Nenner ein oder schießt gar über sie hinaus. Die Höchstgrenze für die Ziffernfolge der Periode lautet stets: Nenner minus 1. Um in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts ohne technische Hilfsmittel fast tausend Dezimalstellen auszurechnen, bedarf es nicht nur bedingungsloser Hingabe und handwerklicher Präzision, sondern auch Vertrautheit mit allen bekannten Abkürzungsverfahren. Mit Sicherheit hat Carl beim Ausarbeiten selbst ein paar neue Tricks hinzuerfunden.
Und wie der Maler die Leinwand braucht, so verschlingt Carls ausuferndes Tabellenwerk Papier – ein offenbar sehr wertvoller Rohstoff in der Welt des Heranwachsenden, mit dem er nicht allzu verschwenderisch umgehen darf. Seine Sparsamkeit geht so weit, dass er sich nicht scheut, umfangreiche Rechnungen in winziger, gestochen sauberer Schrift auf die Vorsatz- oder Titelrückseiten seiner selbsterworbenen Bücher zu kritzeln. Jeden irgendwie entbehrlichen «guten Groschen» wird er für neue Bücher auf die Seite gelegt haben. So baut er sich systematisch eine Privatbibliothek auf. * Womöglich sitzt er, wenn ihm eine Idee kommt, die er sofort notieren und ausführen muss, gerade über einem Buch und hat keinen Zettel zur Hand. Längst hat er gelernt, seine Aufmerksamkeit so zu konzentrieren, dass er langwierige Rechenprozesse über Tage und Wochen am Köcheln hält und parallel dazu sein Studium nicht vernachlässigen muss.
Im Herbst 1794 hat der Eleve Carl eine seiner folgenreichsten Ideen. Angeregt dazu wird er vermutlich von Johann Heinrich Lamberts Aufsatz Theorie der Zuverlässigkeit der Beobachtungen und Versuche , der 1765 erschienen ist. [GauXI,2: 4]. Schon zwei Jahre zuvor ist es ebenfalls Lambert gewesen, dessen Primzahltabellen im Anhang seiner Logarithmentafeln Carl zu der bahnbrechenden Erkenntnis der abnehmenden Primzahlfrequenz verholfen haben. Jetzt liest er dessen Auswertungen umfangreicher Messprotokolle und Beobachtungsreihen der Frühlings- und Herbstnachtgleichen und Sommersonnenwenden, die sich über einen Zeitraum von fünfzig Jahren erstrecken. Lambert schreibt: «Man will durch Versuche das wahre Maaß finden, welches die Natur wirklich gebraucht, z. B. die geographische Länge und Breite eines Ortes, das Gewicht oder die Schwere eines Körpers, den Grad der Wärme, die Länge einer Linie, die Größe eines Winkels, die Zeit einer Beobachtung» [Lam: 425]. Natürlich weiß er auch, dass der «wahre Wert» von vielen Faktoren abhängt. Wie genau ist das Instrument, wie sorgfältig ist der Beobachter, wie wirkt sich ungünstiges Wetter auf die Messgenauigkeit im freien Feld aus? Es sind diese «zufälligen Fehler», die Lambert für unvermeidlich hält. Ihnen muss man bei einer Theorie der Zuverlässigkeit gerecht werden. Sie will er in den Griff bekommen, um dem Ideal des «wahren Maaßes der Natur» auf die Spur zu kommen.
Carl Friedrich Gauß hat keine Aufzeichnungen darüber hinterlassen, ob nach der Lambert’schen Lektüre seine Überlegungen zu Messabweichungen rein theoretischer Natur sind oder ob er selbst Versuche dazu angestellt hat, um auf eine eigene Datensammlung zurückgreifen zu können. Angesichts seines ausgesprochen experimentierfreudigen Wesens ließen sich leicht ein paar einfache Messreihen vorstellen, zumal er dazu neigt, die Schritte häufig benutzter Wege zu zählen.
Vielleicht hat er tatsächlich eine Zeit lang jeden Morgen den Weg zwischen dem Elternhaus am Wendengraben und dem Carolinum am Bohlweg auf diese Weise gemessen. Wenn es regnet und schneit oder wenn er noch müde
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