Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Gegengifte dienen möge, nach dem Vers:
Wenn schnöde Wollust dich erfüllt
So werde durch dies Schreckensbild
Verdorrter Todtenknochen
Dein Kitzel unterbrochen» [Win].
Wir erfahren, dass selbst Joachim Campe Gefallen an diesem unorthodoxen Vorschlag gefunden haben soll. Gesetzt den Fall, es gäbe nicht nur in Städten mit «anatomischen Theatern», sondern auch auf dem flachen Land einen ständigen Zugang zu einigermaßen frischen Leichen, deren Angehörige nichts gegen die höchstherzoglich genehmigte Schaulust pubertierender Jugendlicher einzuwenden hätten, so befürchtet Herr von Winterfeld dennoch, dass bei fehlgeleiteter Einbildungskraft diese pikante Form der sexualpädagogischen Leichenschau eine neue Abart der Unzucht hervorbringen könne: «Wie, wenn ein Zögling künftig für eine schöne Leiche brennte, wie der Schäfer Korydon für den schönen Alexis und manch and’re Schäfer für eine schöne Ziege?» Denn was sind schon längst bis zum Überdruss besungene altgriechische Homosexualität und Sodomie im Vergleich zu einem leichtfertig provozierten nekrophilen Coming-out?
Während der Jahre am Carolinum wird Carl, wie gewohnt, in seinem Elternhaus am Wendengraben gelebt und gegessen haben. Seine Mutter wird selig gewesen sein, den geliebten Sohn um sich zu haben. Was der Vater gedacht hat, ist nicht schwer zu ergründen: Jetzt, da sein ältester Sohn Georg das Schneiderhandwerk wegen eines Augenleidens aufgeben musste und, fern der Heimat, seinen Militärdienst absolviert, ihm also zwei helfende Hände fehlen, hat der Herzog ihm jetzt noch einen Klotz ans Bein gebunden, denn eigentlich müsste sein Carl schon seit drei, vier Jahren selbst Geld verdienen. Einen geschickten Buchhalter und Rechnungsführer bei einer Sterbekasse gäbe er doch allemal ab. Doch der Bengel ist ein Protegé des Herzogs höchstpersönlich. Ihn kann er jetzt nicht mehr so ohne weiteres zu Hilfsdiensten in Haus, Hof, Garten und Geschäft herbeizitieren und herumkommandieren. Gegen den herzoglichen Willen wird selbst der Grobian Gebhard Gauß nicht aufbegehren, auch wenn er weiterhin seinen Sohn für einen Müßiggänger hält. Aber die Anerkennung der Nachbarn im Stadtviertel über so viel herzogliche Aufmerksamkeit wird zweifellos auch einen Funken Vaterstolz auf den genialen Sohn in ihm entzündet haben.
Bei Carls privaten Zahlenexperimenten, für die kein Professor Richtlinien vorgibt und die in keinem Lehrbuch stehen, gehen auf der Suche nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten spielerische Leichtigkeit und heiliger Ernst Hand in Hand. Intuitiv ist er ein paar Schritte vor dem Bild der chaotischen Primzahlenlandschaft zurückgetreten und hat eine vielversprechende Beziehung zwischen diesen Solitären der Arithmetik und dem natürlichen Logarithmus entdeckt. Das ist der Tiefenblick der Kunstfertigkeit. Um diese Spur weiterzuverfolgen, will er die Primzahlen systematisch in Tausenderintervallen abzählen und dafür umfangreiche Tabellen anlegen. Hier kommt das Handwerk ins Spiel. Schluss mit lustig? Sollte man denken. Doch ihm bereitet auch noch die pure Fron des Abzählens und Notierens Freude, weil er es für möglich hält, dass sich ihm beim Blick auf eine frisch ergänzte Tabelle eine neue Perspektive erschließt und er vermeintlich nicht Zusammengehörendes doch noch vereinen kann.
Vielleicht gleicht er hier einem Maler, der außer dem Talent für seine Kunst auch die Leidenschaft zeigt, dem Handwerk auf den Grund zu gehen, und sich deshalb sein Sienabraun und Ockergelb nicht im Laden kauft, sondern selbst aus verwitterten Steinen, Erzen und Erdklumpen herausbricht, aus giftigen Beeren das satteste Purpurrot presst, für sein Schwarz und Weiß Kohlestückchen und Kreide pulverisiert. Eine eigenwillige Erweiterung von Carls persönlicher mathematischer Palette ist sein Tafelwerk der Dezimalbrüche. So wie der ehrgeizige Maler sich sein Arbeitsmaterial in den Mörser bröckelt, legt Carl sich eine private Brüchesammlung zu. Er bildet die Kehrwerte aller Primzahlen zwischen 1 und 1000 – 1/3 … 1/103 … 1/491 … 1/997 – und kommt dabei einer bis dahin unbekannten Gesetzmäßigkeit auf die Spur, die er auch jetzt wieder für sich behält. Beim Zertrümmern der Zahlen gibt er sich allerdings nicht mit sieben oder zweiundvierzig Dezimalstellen hinter dem Komma zufrieden. Er hört erst auf zu rechnen, wenn er die Periode erkannt hat, also wenn eine Folge von Zahlen sich zu wiederholen beginnt. Diese hartnäckige
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