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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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ist, weil er wieder einmal bis tief in die Nacht hinein gelesen hat, erhält er andere Ergebnisse als im ausgeruhten oder vom Sommerwetter beschwingten Zustand. Meistens sind es 1043 Schritte, häufig aber auch drei mehr oder vier weniger, während Ausreißer in die unteren 1030er- oder in die oberen 1050er-Regionen relativ selten sind. Womöglich kreidet Carl sich anfangs die Zählunterschiede als persönliches Unvermögen an und bemüht sich deshalb umso intensiver um Kompensationen für Fehlerquellen wie vereistes Kopfsteinpflaster oder schneidenden Ostwind – körperfremde Einflüsse, die ebenfalls zwangsläufig zu Abweichungen von der durchschnittlichen Schrittzahl führen. Doch trotz aller Gewissenhaftigkeit bleibt stets eine bestimmte Fehlerquote bestehen. Als er schließlich auf die Idee kommt, ein Diagramm der Messreihe zu zeichnen, schaut ihn nicht etwa ein Wirrwarr, Zickzack oder ein sonst wie ungestaltetes Chaos an, sondern eine wunderbar geschwungene Kurve, die auffällig einer Kirchenglocke ähnelt.
    Nun ist Carl nicht etwa der Erste, dem dieses abstrakte Abbild der Messwirklichkeit begegnet, denn die Mathematiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts wissen, dass bei der Gruppierung der unausweichlichen Mess- und Beobachtungsfehler rund um Lamberts «wahres Maaß» herum stets diese typische Glockenkurve zustande kommt. Sie bildet tatsächlich die normale Verteilung der Messabweichungen und damit die Realität des Alltags ab. Der siebzehnjährige Jüngling mit der untrüglichen mathematischen Intuition aber erkennt ihre universelle Bedeutung und «fühlt den Mangel eines festen Prinzips» [GauXI,2: 8] in Lamberts Zuverlässigkeitstheorie. Er schließt die Lücke mit einer brillanten Idee, die künftige Messfehler auf ein Minimum reduzieren soll.
    Die amerikanische Mathematikerin Margaret Tent lässt in ihrer Biographie Gauß im Gespräch mit seinem Freund Johann Ide seine neue Methode erklären: «Angenommen, ich entscheide mich für einen Wert, der mir recht nahe am wahren Wert zu liegen scheint. Dann untersuche ich die Differenzen zwischen diesem ‹wahren Wert› und jedem einzelnen Messwert … Wenn ich jetzt all diese Unterschiede quadriere … und anschließend die Quadrate zusammenzähle, bekomme ich einen guten Blick auf das ganze Bild. Als nächsten Schritt suche ich mir einen anderen Wert als ‹wahren Wert› heraus und untersuche, wie groß die Summe der quadrierten Differenzen ist im Vergleich zur Summe der Quadrate bei der Wahl eines anderen ‹wahren Wertes›. Zum Schluss kann ich dann denjenigen als ‹wirklich wahren Wert› bestimmen, bei dem die Summe der Quadrate am kleinsten ist» [Ten: 72 f.].
    Mit diesem Verfahren ist er nichts Geringerem auf der Spur als einer präzisen mathematischen Formulierung des «Normalen», die sich später als bahnbrechende Idee mit universeller Verbreitung erweisen und «Methode der kleinsten Quadrate» genannt werden wird. Denn im 21. Jahrhundert geht es bei der Normalverteilung längst nicht mehr allein um Messfehlerbereinigungen. Die besorgniserregenden Abweichungen eines Kometen von seiner erdnahen Bahn, pathologische Stoffwechselaktivitäten im Blut oder die Reaktionszeit von Hundertmetersprintern auf den Startschuss: Überall ist die Normalverteilung im Spiel. Und selbst psychologische Merkmale wie die Ängstlichkeit in einer Schulklasse vor der Mathearbeit, die Leistungsmotivation von Bankangestellten oder die Intelligenzverteilung in der deutschen Bevölkerung bringen Glockenkurven hervor, in denen sich die Abweichungen um den Normalwert herum anordnen. Die Gauß’sche Normalverteilung durchdringt fast jeden Aspekt des Alltags.
    1794 jedoch behält Carl seine Einsichten wieder einmal für sich. Erstens hält er sein Verfahren für noch nicht genügend ausgereift, und zweitens scheint «vom ersten Anfang an der Gedanke mir so natürlich, so äußerst naheliegend, dass ich nicht im Geringsten zweifelte, viele Personen, die mit Zahlenrechnung zu verkehren gehabt, müssten von selbst auf einen solchen Kunstgriff gekommen sein, und ihn gebraucht haben, ohne deswegen es der Mühe werth zu halten, viel Aufhebens von einer so natürlichen Sache zu machen» [GauVIII: 141]. Also schweigt Carl. Dabei ist der Siebzehnjährige der Erste, der diese Methode entdeckt und verwendet.
    Dennoch wäre es ein Fehler zu glauben, dass hier ein Ausnahmetalent seine ganze Energie allein der Mathematik widmet. Sein Verlangen nach Weltwissen ist gewaltig, und

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