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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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erstaunlicherweise nimmt die Vertiefung der älteren und neueren Sprachen einen beachtlichen Teil seiner Arbeitskraft am Carolinum in Anspruch. Carl bewegt sich im Anziehungskraftfeld zweier außergewöhnlicher Lehrer. Mathematik- und Physikprofessor Zimmermann ist und bleibt ein unermüdlicher Förderer seiner wissenschaftlichen Ambitionen. Er wird zum väterlichen Freund des begabtesten Zöglings, den er je unterrichtet hat. Johann Joachim Eschenburg heißt der Professor der schönen Literatur und Philosophie. Er hält Vorlesungen über Theorie und Geschichte der Dichtkunst und «Beredsamkeit». Darüber hinaus führt er die von Christoph Martin Wieland begonnene Übersetzung der Werke William Shakespeares zu Ende und gibt die erste vollständige deutsche Shakespeare-Edition heraus. Eschenburg ist ein enger Freund Lessings gewesen und versteht es, Carls Sprachbegabung zu fördern und ihn für die Literatur zu begeistern. Trotz aller Fortschritte und Entdeckungen in der Mathematik wirkt sich der Einfluss Eschenburgs so stark aus, dass Carl im Herbst 1795 noch schwankt, ob er statt Mathematik nicht doch lieber Philologie studieren sollte. Die Beziehung zu Eschenburg wird über die Begegnung im Vorlesungssaal und im Seminarraum hinausgegangen sein, denn Carl ist seit der Gymnasialzeit mit dessen Sohn Wilhelm Arnold befreundet, so dass er seinen Philologieprofessor zweifellos auch in dessen häuslicher Umgebung erlebt hat.
    Mehr als ein halbes Jahrhundert später schreibt Gauß an seinen Jugendfreund: «Es erneuern sich mir die Bilder unserer Knabenspiele, wenn wir jubelnd zum Wendenturm oder Grünen Jäger zogen …» [Mac: 62 f.]. Wendenturm und Grüner Jäger sind zwei beliebte ländliche Ausflugslokale jenseits der Stadtmauern. Es gibt sie also auch: die ausgelassenen Stimmungen, die unbeschwerten, vergnüglichen Stunden, wenn er sich mit dem Freund ein Glas Bier in der Waldgaststätte gönnt. Und warum auch nicht? Seine mathematischen Forschungen wird er selten so empfinden, wie mancher Nichtmathematiker sich diese Beschäftigung vorstellen mag, nämlich als überwiegend grüblerische Tätigkeit, die automatisch zu Verschlossenheit und Weltfremdheit führt. Nachbarn, Bekannte und Mitschüler mögen sich Carl in einer Mischung aus Respekt und Scheu nähern, gehemmt durch die Befürchtung, seinen vermeintlich hohen Ansprüchen nicht genügen zu können. In der Gesellschaft von Freunden wie Wilhelm Eschenburg oder Johann Ide aber kann er ein ganz normaler junger Mann voller Übermut und Lebensfreude sein. Wegen der frühen Anerkennung und Förderung seines Talents wird er sich seines Wertes bewusst sein. Schließlich gehört er ja nicht zu den Strebern, die mit viel Fleiß eben nur das vorgegebene Lernpensum bewältigen und ihren Hauch von Begabung bestenfalls in leidlich gute Zensuren umsetzen.
    Nein, hier rüttelt einer an den Grundfesten der Algebra, hütet als Einziger das Wissen um das erste jemals erkannte Muster in der Primzahlverteilung, ist einer epochalen Lösung für das Problem von Messfehlern auf der Spur und stellt nebenbei die 2000 Jahre alten geometrischen Lehren des Euklid in Frage – insgeheim natürlich nur, weil seine Zweifel selbst ihm allzu kühn und frech erscheinen, um sich Professor Zimmermann anzuvertrauen.
    Weiter schreibt der zweiundsiebzigjährige Gauß an Wilhelm Eschenburg: «… es erneuert sich aus späteren Jahren das Bild deines verewigten Vaters, der mir stets als Musterbild des kalos kagathos erschien und sein Familienkreis wie unter besonderer Obhut eines gütigen Schutzengels stehender Tempel des reinsten irdischen Glücks.» [Mac: 62 f.]. Gauß sieht in seinem Lehrer Eschenburg also die vereinten Kräfte des Guten und Schönen – Kalokagathia – in ihrer Vollkommenheit ausgebildet, das altgriechische Bildungsideal, gelehrt und gefordert von solch unantastbaren Autoritäten wie Sokrates und Platon. Der körperlich schöne Mann ist auch der moralisch und geistig vollkommene Mensch, der die höchsten Ansprüche von Ästhetik und Ethik in seinem Körper-Geist-Kontinuum zusammenführt. Das Gute und Schöne ist das Wahre. Der aus dem Gerber- und Knochenhauerviertel stammende Carl fühlt sich an einen heiligen Ort versetzt, wenn er vor der Türschwelle des Eschenburg’schen Heims steht – ein unfassbar glücklicher Gegenentwurf zu seinem derben Milieu, über dem der ewige Verwesungsgeruch von Tierhäuten und verdorbenen Schlachtabfällen schwebt. In einem Haus, in dem die

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