Gauß: Eine Biographie (German Edition)
geliebte Mutter «unglücklich» [Mac: 72] – wie der Sohn betrübt versichert – an einen engstirnigen Kleinunternehmer und notorischen Poltergeist gefesselt ist, in dem die Knochenarbeit niemals endet, der Vater mit sorgenvollem Blick die Groschen abzählt.
Diese späte, aber deshalb nicht weniger bemerkenswerte Verbeugung des inzwischen weltberühmten Gelehrten vor seinem verehrten Lehrer verdeutlicht, dass Carl sich spätestens als Caroliner mit Eschenburg, Zimmermann und dem Herzog alternative Vaterfiguren gewählt hat, die seinen eigenen Träumen und Idealen entsprechen. Vom leiblichen Vater sei er «früh unabhängig geworden», schreibt er in einem anderen Brief. Zu keinem Zeitpunkt habe der herrisch in seinem eigenen Haus auftretende Mann «mein kindliches Vertrauen besessen.» [Mac: 71]. *
Dass Carl inzwischen in einer eigenen Liga rechnet, wird ihm wohl bewusst sein. Der Grundstock der Bibliothek des Collegium Carolinum stammt noch vom Herzog Anton Ulrich, einem der großen Barockdichter, der keinen Geringeren als seinen Freund Leibniz zum Leiter der berühmten Bibliothek seines Vaters Herzog August in Wolfenbüttel ernannte. Mehrere wertvolle Euklid-Ausgaben sind darunter, Nikolaus Kopernikus’ Hauptwerk De Revolutionibus Orbium Coelestium – Von den Umdrehungen der Himmelskörper , die Geometria , die lateinische Ausgabe der Géométrie von René Descartes, die schon Newton gründlich studiert hat, und ein berühmtes Algebra-Standardwerk von John Wallis [Küs 1 : 37]. Aber kein Mathematikbuch ist dabei, das Carls Hunger nach neuen Anregungen stillen könnte. Jacob Bernoullis Werk über Wahrscheinlichkeitsrechnung hat er sich längst selbst angeschafft. Passend zum Thema Berechnung des Zufalls und zu seinem ausgesprochen spielerischen Umgang mit neuem Lernstoff kauft er sich auch ein Buch über die Gewinnchancen bei gängigen Kartenspielen. In einem Band über juristische und politische Rechenkunst von Carl Chassot de Florencourt hat er auf Seite 249 «Welcher Unsinn» an den Rand geschrieben [Mic: 36]. In der ranghöchsten Bildungsanstalt des Herzogtums Braunschweig hat Carl inzwischen den mathematischen Erkenntnishorizont überschritten, den ihm die dortigen Bücher aufspannen können.
1714, im Todesjahr des Braunschweiger Herzogs und Dichters Anton Ulrich, erschien in Amsterdam ein Raubdruck der Principia Mathematica von Isaac Newton – die Matrix unseres heutigen Weltbilds und das wohl bedeutendste wissenschaftliche Werk, das je ein Autor geschrieben hat. Die Erstausgabe wurde 1688 in London veröffentlicht. Der siebzehnjährige Carl kauft ein Exemplar der Amsterdamer Ausgabe und signiert es mit C. F. Gauß 1794. In den Principia diskutiert Sir Isaac Newton seine epochalen Vorstellungen eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit, erklärt seine drei Bewegungsgesetze und leitet aus eigenen himmelsmechanischen Beobachtungen sein Gravitationsgesetz ab, das die Planeten um die Sonne kreisen lässt. Die wohl spektakulärste Erkenntnis Newtons, die seine wissenschaftlich interessierten Zeitgenossen am meisten verblüfft hat, war die Schlussfolgerung, dass dieselbe Gravitation, die für das alljährlich wiederkehrende Fallobst-Phänomen in den Gärten der Welt verantwortlich ist, auch den Mond in seine Bahn um die Erde zwingt. Ein unbedeutender Plumps für einen Boskop – ein gewaltiger Bewusstseinsaufschwung für die Menschheit. Die berühmte Gebetsformel «Wie im Himmel, so auf Erden …» wird hier auf wahrhaft himmelsstürmende Art und Weise säkularisiert.
Frühere Autoren machten es sich leicht und feierten als bewegende Kraft im Universum den allmächtigen göttlichen Willen. Selbst René Descartes, dem zu seiner Zeit eminentesten Vertreter des reinen esprit weit und breit, fiel nichts Klügeres ein, als ominöse, unsichtbare Ätherwirbel – seine berüchtigten «tourbillons» – im Weltall zu verteilen, auf denen die Planeten irgendwie durchs Sonnensystem rutschten. Logisch begründen ließ sich diese Vorstellung natürlich nicht, und Berechnungen von Planetenbahnen waren ganz und gar unmöglich. Im Gegensatz zu Descartes gelingen Newton jetzt mit Hilfe seiner neuentwickelten These äußerst präzise Bahnbestimmungen, aus denen er die künftigen Positionen der Planeten ableiten und vorhersagen kann. Newtons Werk ist ein Triumph der mathematischen Vernunft über religiös dominierte Dogmen und phantasievolle Vorstellungen vom Universum.
Aber es dauerte ein paar Jahrzehnte, bis sich
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