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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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die Botschaft außerhalb des elitären Zirkels der Londoner Royal Society auch auf dem europäischen Kontinent verbreitet hatte. Denn kaum jemand verstand Newton wirklich. Selbst Leonhard Euler, der prominenteste Mathematiker Europas, musste anfangs zugeben, dass er arge Probleme mit den Principia hatte. Und Johann Bernoulli der Ältere, Stammvater einer ganzen Dynastie bedeutender Mathematiker, empfand Newtons Hauptwerk gar als eine Zumutung: «Ich habe versucht, es zu begreifen. Ich las immer wieder, was Newton über das Thema zu sagen hatte, aber … ich habe nicht eine Silbe davon verstanden» [Fei: 67]. Das lag weniger an der Undurchdringlichkeit der umständlichen Prosa Newtons oder an der lateinischen Sprache, in der das Werk abgefasst ist – im 17. und 18. Jahrhundert beherrschte jeder Gelehrte Latein –, als vielmehr an der mathematischen Darstellungsweise seiner Erkenntnisse. Obwohl Newton mit der Differenzialrechnung ein neues leistungsfähiges mathematisches Verfahren zur Berechnung von Bewegungen und Prozessen entwickelt hatte, kleidete er seine bahnbrechenden Entdeckungen – als wolle er seine Spuren verwischen – in eine vergessene, schwer nachvollziehbare geometrische Sprache, vor der die meisten Kollegen kapitulieren mussten.
    Seine Einsichten gewann er bereits 1665/66 in seinem 23. Lebensjahr, als die Pest in London ausbrach und sich über das ganze Land verbreitete: «Im Jahr der Pest vollzog sich seine Wandlung. Ganz auf sich allein gestellt und von der Außenwelt nahezu abgeschnitten, wurde er der bedeutendste Mathematiker der Welt» [Gle: 41]. In dieser dunklen, bedrohlichen Zeit war er der mathematischen Unendlichkeit auf der Spur, aus der die Differenzialrechnung hervorging: Die folgenreiche Verbindung von Geometrie und physikalischer Bewegung wurde zur mathematischen Grundlage seiner revolutionären Himmelsmechanik und gehörte später zum unverzichtbaren theoretischen Instrumentarium eines jeden künftigen Maschinenbauingenieurs, der seit James Watts grandioser Idee mit dem Wasserdampf ein Meister seines Fachs werden wollte. So wurde im Jahr der Pest eine dynamische Mathematik geboren, mit der Bewegungen und Prozesse berechnet werden können. Heraklits berühmte Einsicht «Alles im Fluss» schien Pate gestanden zu haben, als Newton seine neue Mathematik des Werdens «Fluxionsmethode» nannte. *
    Auch mit der ominösen «Schwere» wähnte er sich auf dem richtigen Weg mit seiner Überlegung, die Gravitation dürfe nicht am höchsten Ast des Apfelbaums, auf dem Kirchturm oder am Rand der weißen Klippen von Dover aufhören, sondern müsse auch für die Planeten des Sonnensystems gelten. Das war der entscheidende Schritt hin zum Konzept einer universellen Gravitation. Nicht nur Äpfel und Kirchturmschindeln fallen nach unten, sondern auch die Himmelskörper auf ihrer Bahn. Aber ein Restzweifel nagte an Newton, denn nicht alle seine Zahlen und Proportionen waren schlüssig. Es sei denn, er stellte eine Autorität ersten Ranges in Frage: Galileo Galilei. So rang Newton noch mit dessen Behauptung, alle Körper fielen, unabhängig von ihrer Entfernung zur Erde, mit konstanter Beschleunigung. Mit seinen eigenen Berechnungen und Schätzungen kam er zu anderen Ergebnissen. Die Anziehungskraft der Erdenschwere schien mit dem Abstand eines Objekts nicht einfach nur abzunehmen, sondern wurde offenbar proportional zum Quadrat des Abstands schwächer. Doch Newtons Kollegen blieben vorerst auf Descartes’ ätherischen tourbillons sitzen und rechneten weiter mit den Galilei’schen Fallgeschwindigkeiten, denn er behielt seine umwälzenden Erkenntnisse zwanzig Jahre lang für sich.
    Dieses Verhaltensmuster kennen wir bereits aus dem winzigen Studierzimmer des Hauses Nr. 1550 am Wendengraben und im Collegium Carolinum. Rund 130 Jahre nach Newtons kreativem Schub und seinem anschließenden Schweigen verhält sich der jugendliche Carl bei seinem Primzahlenfund und der neuen Methode zur Reduzierung von Messabweichungen ähnlich wie sein großes Vorbild. Er wird ihn in dieser Hinsicht kaum bewusst imitiert haben. Vielmehr wird die Übereinstimmung mit Newtons strikter Zurückhaltung in einer Geistesverwandtschaft begründet liegen. Beide sind zwar überzeugt, ein Grundprinzip erkannt und eine gute Annäherung gefunden zu haben, ein paar letzte Zweifel aber bleiben. Selbst wenn die tausendste Überprüfung mit der neuen Hypothese übereinstimmt, könnte die nächste untersuchte Zahl oder Koordinate die

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