Gauß: Eine Biographie (German Edition)
das Lückenhafte, das ihm beim Studium der großen zeitgenössischen Vorbilder aufgefallen ist, mit seinen eigenen Erkenntnissen auffüllen und eine umfassende Arbeit schreiben, in der das Siebzehneck und das quadratische Reziprozitätsgesetz nur kleine Mosaiksteine in einem größeren Gesamtbild sind. Das Siebzehneck ist ein erinnerungswürdiger Durchbruch. Er weiß jetzt aus eigenem Ermessen, dass er es mit Euklid aufnehmen kann. Die bisher stets im Hintergrund aufrechterhaltene Option, wegen günstigerer Berufsaussichten einen Abschluss in Philologie anzustreben, spielt keine Rolle mehr. In diesen ersten Apriltagen des Jahres 1796 entschließt sich Carl Friedrich Gauß endgültig, Mathematiker zu werden.
Spätestens einen Tag vor seinem 19. Geburtstag am 30. April ist er zurück in Göttingen, was ein Eintrag in sein neues wissenschaftliches Tagebuch bezeugt. Irgendwann im Mai kommt es zu einer Begegnung mit Kästner, die ihn verstimmt zurücklässt. Das Gespräch mit seinem Mathematikprofessor über die Konstruierbarkeit des Siebzehnecks verläuft nämlich höchst unerfreulich. Entweder versteht der alte Herr tatsächlich nicht die Bedeutung der Entdeckung, oder er ist nicht großherzig genug anzuerkennen, dass sein Student längst in einer höheren Liga als er selbst Mathematik betreibt. Aus seinem Brief an Zimmermann vom 26. Mai 1796 geht hervor, dass es erst einer zweiten Audienz bei Kästner bedurfte, bis der sich auf die Entdeckung seines Studenten einließ und ihm überhaupt erst «die Erlaubnis [erteilte], es ihm schriftlich vorzulegen». Kästners anfangs kühle Reaktion beim ersten Gespräch verstand Gauß zunächst nicht als Missgunst und persönlichen Affront, sondern als pauschale «Abneigung gegen alles Neue». Bei der zweiten Begegnung dann scheint dem 77-Jährigen nach einer privaten zahlentheoretischen Nachhilfelektion von Carl Friedrich Gauß endlich zu dämmern, was der junge Mann da geleistet hat. «Das schien ihn dieses Mal zu frappieren und so nahm er sogleich einen anderen Ton an und sagte, wenn es auch richtig wäre, so würde es doch gar keinen Nutzen haben, da man die Vielecke weit leichter nach den Tafeln konstruieren könne» [Zim 1 : 23].
Kästner entlässt seinen Studenten mit dem onkelhaften, aus seiner Sicht wahrscheinlich versöhnlichen Kommentar, er habe da «eine ganz artige Kuriosität» gefunden, die aber nicht neu sei, schließlich habe er sie ja selbst schon in seinen Anfangsgründen der Mathematik erwähnt und «es nur nicht der Mühe wert gehalten, es zu entwickeln». Gauß lässt Kästner in diesem Glauben. Uns Nachgeborenen fällt es leicht, den Kopf zu schütteln und uns zu fragen, warum Gauß sich zweimal auf eine solch groteske Situation eingelassen hat, die ihn wie einen Bittsteller aussehen lässt. Vermutlich ist es ein Zugeständnis an eine geachtete Persönlichkeit im akademischen Betrieb, die wertvolle Beziehungen für ihn spielen lassen kann. Und tatsächlich erwähnt Gauß im selben Brief an Zimmermann, Kästner habe ihm ein wichtiges Buch besorgt, aus dem er immerhin die Erkenntnis gewinnt, dass weder Euler noch Legendre oder Lagrange einen strengen Beweis für das quadratische Reziprozitätsgesetz gefunden hatten [GauX,2: 22]. Dann der entscheidende Satz: «Ich glaube es also jetzt wagen zu können, wenn ein Buchhändler sich findet, an die Ausarbeitung zu gehen» [Zim 1 : 24]. Das ist der Startschuss für seine Disquisitiones Arithmeticae , sein erstes Meisterwerk, das die Zahlentheorie neu begründen wird. Vom Verleger ließe er sich «jede Bedingung gefallen», schreibt er, hofft aber gleichzeitig auf eine «nicht zu geringe Anzal von Freiexemplaren».
Wie sieht das Privatleben eines jungen Mannes aus, der gerade einen wichtigen Zweig der Mathematik revolutioniert? Ide und Eschenburg, die Freunde aus Braunschweiger Schultagen, studieren zwar auch in Göttingen, offenbar aber begegnet er ihnen inzwischen seltener. Gauß gehört eindeutig nicht zu der Kategorie schöpferischer Menschen, die den anregenden Austausch mit Freunden, Kollegen und Gleichgesinnten brauchen und sich erst in der summenden Atmosphäre großstädtischer Salons zu kreativen Höchstleistungen aufschwingen. Er gehört zu den langsamen, gründlichen Arbeitern, die im vielzitierten «stillen Kämmerlein» ganz für sich arbeiten, um dann plötzlich die Welt mit einem Meisterwerk zu überraschen. Spätestens nach der Enttäuschung mit Kästner dürfte ihm endgültig klar geworden sein,
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