Gauß: Eine Biographie (German Edition)
fähig ist. Diese Entdeckung ist eigentlich nur ein Corollarium einer noch nicht ganz vollendeten Theorie von größerem Umfange und sie soll, sobald diese ihre Vollendung erhalten hat, dem Publicum vorgelegt werden.
C. F. Gauß , a. Braunschweig
Stud. der Mathematik zu Göttingen» [Int]
«… nur ein Corollarium», also die aus einem anderen bewiesenen Satz abgeleitete Folgerung – Peanuts im Vergleich zu dem, was das geneigte Publikum noch von ihm zu erwarten habe. Das klingt erstaunlich selbstbewusst, während der Seitenhieb auf Euklid und seine Nachfolger nicht nur aus verständlichem jugendlichen Stolz auf seinen Coup ironisch verstanden werden kann, sondern womöglich weiter reichende Motive hat. Denn Gauß hegt ja bereits seit seinem vierzehnten Lebensjahr Zweifel an der euklidischen Geometrie als der einzig wahren Darstellungsmöglichkeit von Punkten, Linien, Winkeln und Flächen, vor allem aber des Raumes. Nun hat er einen ersten Teilerfolg errungen und Euklids Familie konstruierbarer Vielecke um ein paar seltsame, bisher unbekannte bucklige Verwandte bereichert. Das sollte ihm eigentlich scharfe Munition für weitere Angriffe auf die Festung namens «euklidische Geometrie» verschafft haben, die sich zwei lange Jahrtausende hindurch keiner ernsthaften Belagerung stellen musste.
Aber das Intelligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung scheint wohl nicht das rechte Medium für eine schriftliche Beweisführung zu sein. So bleibt es bei dieser Ankündigung, obwohl sich die Konstruktion des Siebzehnecks auf zwei bis drei Seiten darstellen ließe. Womöglich hat Zimmermann ihm geraten, sich zunächst einmal den Prioritätsanspruch auf seine Entdeckung zu sichern, nun, da seine Arbeiten zweifellos Publikationsreife auf Erstliganiveau erreicht haben.
Dass Gauß sich inzwischen mit den bedeutendsten Zahlentheoretikern des 18. Jahrhunderts messen kann, dem verstorbenen Leonhard Euler und dem in Paris lebenden Adrien Marie Legendre, beweist der zweite Eintrag in sein neues Notizheft nur zehn Tage nach dem Geniestreich mit dem Siebzehneck. An diesem 8. April gibt er zu Protokoll, er habe einen strengen Beweis für das «quadratische Reziprozitätsgesetz» gefunden, einen der wichtigsten Sätze der Zahlentheorie. Euler hat dieses Prinzip einer besonderen symmetrischen Wechselwirkung zwischen zwei ungeraden Primzahlen erkannt und hat all die weitreichenden Abhängigkeiten und Komplikationen beschrieben, die die Lizenz zum gegenseitigen Dividieren und Multiplizieren mit sich bringt. Beweisen konnte Euler die Zusammenhänge allerdings nicht, und auch Legendre und Lagrange haben die Klarheit und die Kraft vermissen lassen, die Gauß jetzt bewiesen hat.
Die Zahlentheorie beschäftigt sich mit den Eigenschaften der ganzen Zahlen. Es geht um deren Teilbarkeit und um die Funktion der dabei entstehenden Reste. Das Geheimnis der Primzahlverteilung, das Gauß vor zwei Jahren schon ein wenig gelüftet hat, gehört auch hierher. Ebenso die Zerlegung ganzer Zahlen in Primfaktoren: Erinnern wir uns an die Zahl 5050, die am Anfang der Gauß’schen Karriere steht, und die sich in die Primfaktoren 2 x 5 x 5 x 101 zerlegen lässt. Euler und Legendre haben einen neuen Ansatz zur Zahlentheorie begründet, den Gauß sich vor allem im letzten halben Jahr in Göttingen zu eigen gemacht hat. Und jetzt erntet er die Früchte seiner Anstrengungen. Wenige Tage nach dem Beweis für die «Constructibilität» des Siebzehnecks findet dieser unbekannte Student auch eine wasserdichte Argumentation für das quadratische Reziprozitätsgesetz. Das ist eine Rechenregel, mit deren Hilfe sich eine bestimmte Beziehung zwischen einer ungeraden Primzahl «p» und einer ganzen Zahl «a» überprüfen lässt. Wobei a zwischen 0 und p liegt. Gesucht werden ganze Zahlen, deren Quadrat – durch p geteilt – den Rest a ergeben. Zweihundert Jahre lang hat kein Mathematiker einen Gedanken an den praktischen Nutzen dieser theoretisch allerdings äußerst bedeutsamen Entdeckung verschwendet. Erst mit dem täglichen, weltweiten Austausch sensibler Informationen über das Internet haben die mathematischen Grundlagen des Gauß’schen Beweises zu einem sicheren Verschlüsselungsverfahren geführt, zur sogenannten Public-Key-Kryptographie.
Noch hält Gauß seine Erkenntnisse und Beweise unter Verschluss. Im Gegensatz zu seinem Schweigen bei der Entdeckung der Primzahlverteilung bestimmt dieses Mal aber ein anderes Motiv seine Zurückhaltung: Er will jetzt all
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