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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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zu nennen, aus der Aufgabe 21 x 29 die schneller zu rechnende Variation 20 x 30 + 1 x 9. Bestimmte Zahlenindividuen sind ihm durch vertrauten Umgang so geläufig, dass er ihre Eigenschaften und verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen Zahlen auf einen Blick erkennt und daraus Vorteile beim Rechnen zu ziehen weiß.
    Möglicherweise bleibt dem individualisierenden Zahlenrechner Gauß bei dieser kreativen Abweichung vom SchemaF des Schulrechnens auch die spielerische Freude aus Kindheitstagen an der rein mechanischen Rechenarbeit erhalten, als noch hinter jedem Zehner- und Hunderterübergang neue Einsichten und Überraschungen lauerten. «Zwar ist nicht jede Zahl ein zahlentheoretisches Unikum; aber der aufmerksame Beobachter wird bald in ihrer Nähe, oder in einem ihrer Teiler oder in einem ihrer Vielfachen eine für seine Zwecke brauchbare Zahl finden» [Mae 2 : 18]. Sein überragendes Gedächtnis ist die Grundlage für das Wiedererkennen von Eigenheiten der Zahlenindividuen. Und durch die ständige Übung haben sich inzwischen markante synaptische Netzwerke in seinem Gehirn geknüpft, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, von einer Entdeckung zur nächsten fortzuschreiten. Die grundsätzliche Flexibilität, altbekannte Verfahren individuell umzuformen, hat bei Gauß eine künstlerische Qualität erreicht, die ihm vor allem bei den komplizierteren Untersuchungen der Beziehungsstrukturen innerhalb der Zahlentheorie, wie Euler, Legendre und Lagrange sie geprägt haben, zugutekommt.

    Die Freundschaft mit Wolfgang Bolyai blüht auf. Die jungen Männer machen Ausflüge in die nähere Umgebung und wandern bis ins 40 Kilometer entfernte Kassel. Einmal lädt Gauß den Freund ein, seine Eltern in Braunschweig zu besuchen. Auch diesen Zweitagesmarsch absolvieren sie zu Fuß. Die Mutter ist verblüfft, einen ungarischen Edelmann in relativ feinem Zwirn in ihrem bescheidenen Haus begrüßen zu können. Bolyai selbst erzählt Jahrzehnte später in einem Brief an Waltershausen, sie habe ihn beiseitegenommen und ihn gefragt, was denn aus ihrem Carl einmal werde. Der erste Mathematiker in Europa, habe seine Antwort gelautet, worauf sie zu Tränen gerührt gewesen sei. Im Hof von Bolyais Göttinger Unterkunft sitzen die beiden Freunde auf der Schaukel, lesen gemeinsam den griechischen Satiriker Lukian von Samosta und den englischen Lyriker Alexander Pope. Sie schenken sich gegenseitig Tabakspfeifen und erheben das gemeinsame Rauchen in den Rang einer Kulthandlung, mit der sie ihre Freundschaft feiern.
    Offenbar haben sie neben ihrer verzehrenden Leidenschaft für die Mathematik auch Zeit, um von den Mädchen zu schwärmen. Noch zwanzig Jahre später erinnert Bolyai Gauß in einem Brief aus Ungarn an «die blonde Line Klindworth und die brünette Sophie Murrai». Die Blondine könnte eine Tochter von Johann Andreas Klindworth gewesen sein, der als vielbeschäftigter Feinmechaniker in Göttingen auch für den Bau und die Wartung von Professor Lichtenbergs pyroelektrischen Apparaten verantwortlich gewesen ist. Gauß selbst sucht Klindworth einige Male in dessen Werkstatt auf, weil der Mechanikus defekte Barometer für Professor Zimmermann repariert. Doch nichts ist bekannt über ein Rendezvous, eine Liebelei oder auch nur eine flüchtige Begegnung mit Line, Sophie oder einem anderen Mädchen in der Göttinger Studentenzeit. Die Freunde werden sich auf der Wallpromenade verabredet haben, dem angesagten Laufsteg, wo die feinen Damen und die feschen Professorentöchter mit ihren neuen, atemberaubend zugeschnürten Kleidern kokettieren. Sie werden den Dienstmägden hinterhergeschaut und die Schwangeren mit verstohlenen Blicken verfolgt haben, die in Osianders Accouchierhaus verschwinden, das direkt am Wall liegt und nur einen Katzensprung von Gaußens Domizil entfernt ist.
    Wolfgang Bolyai ist ein notorischer Spötter, der vor Publikum zur Hochform aufläuft, wie der Gauß-Freund Ide in einem Brief bezeugt [Dun: 51]. Eine Volksbelustigung wie das Göttinger Schützenfest mit der pompösen Proklamation der Schützenkönige, dem Umzug durch die Stadt mit Pauken und Trompeten und anschließendem trinkseligen Tanzvergnügen lässt er sich nicht entgehen. Kaum allerdings aus Freude an der Geselligkeit, sondern um sich über die Torheiten der Menschen lustig zu machen. Dann schlägt seine Stunde als unbarmherziger Kommentator und «Philosoph», der vor Freunden und Kommilitonen die Eitelkeit menschlichen Tuns geißelt und das dröhnende Pathos

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